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Als eine Marienschülerin von der toten Mutter ins Grab hinabgezogen wurde
03.02.18 - Wenn es um Legendenbildung geht, dann sind Berichte von Großeltern eine nicht zu unterschätzende Informationsquelle. So erzählte Oma Julchen vor vielen, vielen Jahren ihrem damals siebenjährigen Enkel eine Schauermär, die sich in den 1930er Jahren in Fulda zugetragen haben soll:
Über dem Frauenberg tobte ein Sturm, als an einem Freitag kurz vor Mitternacht eine zierliche Person im Schatten der Bäume vorsichtig in Richtung Friedhof huschte. Hinter den Büschen am Wegesrand rumorte es: Ketten klirrten, dumpfe Gespensterrufe ertönten, und kleine Steine prasselten von allen Seiten auf den nächtlichen Wanderer hinab. Dieser beschleunigte den Gang und öffnete mit zitternden Händen das quietschende Eisentor des Gottesackers, den zahlreiche Totenlichter in ein diffuses Licht tauchten.
Just in diesem Moment krachte ein Blitz vom Himmel und erleuchtete das Geschehen. Eine Marienschülerin war’s, die da fest entschlossen war, eine Mutprobe zu bestehen. Oma Julchens Angaben über Alter und Namen des Mädchens waren entweder rudimentär oder sind in Vergessenheit geraten. Auf jeden Fall aber hatte die Schülerin, die eine Außenseiterin in der Schulgemeinde war, geschworen, in besagter Nacht das Kreuz aus dem Grab ihrer gerade verstorbenen Mutter herauszuziehen. Bei Vorlage am kommenden Tag in der katholisch geprägten höheren Mädchenanstalt sollte sie aufgenommen werden in eine „privilegierte“ Mädchen-Bande, die sich aus der ganzen Aktion natürlich einen Spaß gemacht und für den Gespensterzauber am Wegesrand gesorgt hatte.
Also: Kurz schlucken (denn das schlechte Gewissen gegenüber der verstorbenen Mutter war doch groß) - Kreuz raus - und davonrennen wie der Teufel. Unter Gejohle der anderen Mädchen, die hinter ihren Büschen hervorkamen, suchte das Mädchen das Weite.
Der Tragödie zweiter Teil: Das Hallo war groß, als die Marienschülerin am nächsten Morgen das Kreuz präsentierte. Doch zur Vereinbarung unter den dummen Dingern gehörte noch, dass das Kreuz in der Nacht danach wieder zurückgebracht werden sollte. Also schleppte sich die Arme erneut zum Frauenberg. Diesmal war es windstill, dennoch hörte sie die Gespenstergeräusche ihrer „Kameradinnen“, die sich erneut im Unterholz einen Spaß machen wollten, gar nicht. Ihr Herz war viel zu schwer. Beim Grab der Mutter angekommen, rammte sie das Kruzifix in die noch vom Vorabend feuchte Erde, der Saum ihres langen Kleides verfing sich darin, und sie wurde nach unten gezogen. „O Gott, Mutter zieht mich vor Zorn ins Grab“, war ihr letzter Gedanke, bevor sie einen Herzanfall erlitt und tot zu Boden stürzte. - Nur ganz zögerlich kamen die anderen der Mädchen-Bande aus ihren Verstecken heraus.
Oma Julchen hat damals übrigens Stein und Bein geschworen, dass jedes Wort dieser Geschichte wahr ist. Weiß man’s? (Matthias Witzel) +++