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Trauernde bei der Beerdigung eines Paares in Kiryat Tivon, das am Samstag bei dem brutalen Terrorangriff der Hamas getötet worden war. - Foto:picture alliance/Associated Press | Ariel Schalit

TEL-AVIV/FULDA Gespräch in der Warzone – Teil 3

Angriffe gehen weiter - "Ha-Matzav" – die Lage schlägt auf den Magen

14.10.23 - Diese Woche habe ich ein wunderbares hebräisches Lied kennengelernt: "Ba Shana haba‘ah" – ein Lied der Freude und Hoffnung. Die Melodie ist ansteckend, lädt geradezu zum Mitsingen ein. 

Sieh, wie gut es nächstes Jahr sein wird

Gerade jetzt spricht es mich besonders an. Das schreibe ich Gaby, und sie fragt zurück: "Das von Naomi Schemer? Mit dem Refrain "Komm und sieh, wie gut es nächstes Jahr sein wird? – Bis dahin haben wir fast ein volles Jahr vor uns."

Ich schaue nach, der Name sagt mir zunächst nichts – und antworte ihr, ja, ich denke schon. Ich schaue mir ein paar Fotos der Sängerin an, und denke sofort an Joan Baez. Noch weiß ich nicht, wie passend dieser Vergleich ist für die ‚first lady of Israeli song".  Ich will mehr wissen. Gaby antwortet:

"Naomi Shemer war großartig, wenn auch politisch umstritten. Ihre Texte und Melodien wirken oft simpel, sind es aber selten. Häufig entsteht durch das Zusammenspiel von Text und Musik eine völlig neue Ebene. Sie ist ein Nationalsymbol – die Jerusalem-Hymne (Yerushalayim shel zahav – Jerusalem aus Gold) stammt von ihr."

Realitätsverschiebungen

Der Moment der Unbeschwertheit ist schnell vorüber, als sie mir kurz darauf einen Twitter-Screenshot des UN Humans Rights Council schickt: ‘On Monday afternoon, the UN Human Rights Council observed a moment of silence for the loss of innocent lives in the occupied Palestinian territory and elsewhere.’

"Guten Morgen, entschuldige den frühen Zeitpunkt, aber ich brauche einfach ein Ventil hierfür. Nicht neu, nicht unerwartet, aber angesichts des Massakers vom Samstag bringt mich dieser Text doch etwas aus der Fassung." Nicht nur sie - eigentlich kann man bei so etwas nur die Faust in der Tasche ballen.

Es ist die lebende Hölle

Am Abend ist Israel Thema bei Lanz, die Generalsekretäre Kevin Kühnert und Carsten Linnemann sowie die Journalistin Eva Quadbeck und der Politologe Carlo Masala sind da, online zugeschaltet ist die Soziologin Melody Sucharewicz, die 1999 nach Israel auswanderte. Ihre bewegende, erschütternde Schilderung aus der ‚lebenden Hölle‘ in Israel diszipliniert sogar die beiden Alphatiere von SPD und CDU. Sie macht glasklar deutlich: Die Hamas wurde nur dafür gegründet, um Israel zu zerstören. Sie ist kein Repräsentant für irgendeine palästinensische Sache. Und wenn der Schutz Israels deutsche Staatsraison ist, muss das ständige ‚ja, aber …‘, müssen die Relativierungen endlich ein Ende haben. Das erwartet Israel von Deutschland.

Während ich zuhöre, formt sich ein Gedanke immer klarer: Der 7. Oktober 2023 hat ähnliche Bedeutung wie der 24. Februar 2022. Wieder stehen wir vor einer Zeitenwende, wieder muss Deutschland sich von bequem gewordenen Haltungen verabschieden, muss sich neu positionieren. Wird uns das gelingen?

Von muslimischer Seite kommt überwiegend dröhnendes Schweigen. Es gibt nur einzelne Stimmen der Solidarität. Gaby schickt mir einen Link und schreibt:

"Einen herzzerreißenden Kommentar schicke ich Dir, von der arabisch-israelischen TV-Moderatorin Lucy Aharish, die mit dem jüdischen Schauspieler Zachi Halevy verheiratet ist. Ihre klaren Worte haben mich – apropos Einigkeit – heute emotional sehr berührt. Ihr Mann ist 48 und leistet ebenfalls Ersatzdienst. Die beiden werden sehr stark angefeindet. Geradliniger kann man es nicht sagen!" 

https://fb.watch/nCmMEqSBgZ/?mibextid=qC1gEa

30 Sekunden bis zum Schutzraum

Gabys Tochter Talja ist in den frühen Morgenstunden sicher in Tel Aviv gelandet. Gott sei Dank! Aber auch sie könnte eingezogen werden. Ich stelle mir vor, dass und wie die drei Frauen – Gaby, ihre Tochter Talja und Schwiegertochter Nata – sich gegenseitig Mut machen.

Gaby schreibt: "Wir sind am fünften Tag dieses schrecklichen Kriegs, schon? Oder erst? Es fühlt sich an, als gehe er schon Wochen – und dabei ist das nur der Anfang. Zum jetzigen Zeitpunkt: David und Ori sind ok. Mir beginnt die Lage – auf Hebräisch: ha-matzav, ein geflügeltes Wort – wortwörtlich auf den Magen zu schlagen. Nach nur fünf Tagen... bah! Seit 24 Stunden gab es keinen Raketenalarm in unserem Gebiet, ganz im Gegensatz zu Israels Süden, der nahezu ununterbrochen beschossen wird. Dort haben die Menschen 15 bis 30 Sekunden, um in ihre Schutzräume zu gelangen. Wir im Großraum Tel Aviv haben 60 bis 90 Sekunden, das ist für alle, die normal gehen können, auch nachts machbar."

Wie berichtet, ist Schwiegertochter Nata im neunten Monat, und muss zu einem Behandlungstermin an diesem Morgen. Gaby schreibt: "Wäre es anders, hätte ich heute die Fahrt mit Nata nicht gewagt. 10 Minuten Stadtverkehr, 30 Minuten über freie Fläche ohne Schutzräume. Es war eine Planung wie für eine Exkursion: angefangen bei der Frage, welche Schuhe man anzieht, denn bei Raketenalarm muss man das Auto verlassen, dann der Proviant – man weiß nicht, wie lang man unterwegs ist, und die Kleidung. Die Anweisung lautet, sich flach auf den Boden zu legen und den Kopf zu bedecken. Mit einer Frau im neunten Schwangerschaftsmonat? Also habe ich noch eine Decke eingepackt. Gebraucht haben wir glücklicherweise nichts."

Auch diese Schilderung kann einen nur demütig machen. Denn das Schlimmste, was uns bei einem Arzttermin passieren kann, ist eine etwas längere Wartezeit.

Kugelsichere Westen und Schutzräume

"Ich hätte noch einige andere Gedanken zu teilen – zum Gaza-Streifen, zum Alarm in Haifa, zur Fundraiser-Aktion unserer Tochter, die versucht, kugelsichere Westen zu organisieren – ja, reib dir die Augen: 360.000 Reservisten am Zaun zu Gaza, davon viele ohne ordentliche kugelsichere Westen."

Fast beruhigt mich, dass Gaby mir schreibt, jetzt müsse sie erst mal abschalten, es ist alles zu viel. Sie schreibt, ein Mädelsabend – "möglichst leicht" – sei geplant. Gerade als ich wissen will, wie die drei "möglichst leicht" übersetzen, kommt die Nachricht von ihr, dass der Mädelsabend verschoben werden muss: "Die Ereignisse überschlagen sich – auch der Norden sitzt jetzt in Schutzräumen. Jetzt ist auch im Norden Krieg (= Grenze zum Libanon). Wir sitzen im Schutzraum, auch ohne Sirene, per ‚homefront‘-Nachricht. Jede klebt am Handy, liest und beantwortet Nachrichten. Wir wissen nicht, warum, Terroristen-Infiltrierung wahrscheinlich."

Gott sei Dank stellt sich das schnell als Fehlalarm heraus, im Schutzraum bleiben soll man aber. Ich frage nach und erfahre, ‚homefront‘-Nachrichten" ist der offizielle Kanal der Armee für die Zivilbevölkerung, eine App – in Deutschland den Meldungen des Katastrophenschutzes vergleichbar.

Gaby und ihre Familie haben – wie viele Familien in Israel – einen privaten Schutzraum in ihrem Haus. Sie schreibt:
"Das Problem der Schutzräume in Privathäusern: sie helfen gegen Raketen, aber nicht gegen Terroristen, wie wir am Samstag lernen mussten. Oft lassen sie sich nicht abschließen. Wenn wie in den Orten im Süden das Haus angezündet wird, wandelt sich der Schutzraum zur Mausefalle. Viele Leute sind am Samstag auf diese Weise erstickt, andere wurden von den Terroristen mit Feuer rausgetrieben und ermordet."

Ich lese einen Kommentar von Deborah Feldman im Spiegel, in dem sie schreibt, dass – wie in jedem Krieg – wieder vor allem Frauen angegriffen werden. Die Bilder aus dem Kibbuz Re’im und anderswo sagen eins mit aller Deutlichkeit: Die Hamas kämpft nicht, sie schlachtet ab. Das sind keine Kämpfer, sondern Terroristen. Apropos: Auch die haben Unterstützer – zum Beispiel in Katar, das in Doha Museen in den Farben Palästinas anstrahlt. Meine Würgtüte kann gar nicht groß genug sein.

Sabbat des Anfangs

Gabys erster Post an diesem Freitag beschäftigt sich mit einem Dilemma aller gläubigen Juden. Denn Sabbatruhe bedeutet, dass man auch das Handy auslässt. Sie schreibt: "Nachdem ich heute gut drei Stunden gebraucht habe, um zu funktionieren, sind die Schabbat-Vorbereitungen fast abgeschlossen, nur die Challa muss noch in den Ofen. Zeit zum ersten Nachrichtencheck hatte ich, ich habe das Gefühl, dass es mich zerreißt. Am vergangenen Samstag, also vor sieben Tagen, wurde ich von Raketenlärm und Sirenen geweckt. Bis zum Mittag dachte ich noch, es sei "Routine" (ja, tatsächlich – auch da bekommt man Routine), und ließ mein Telefon wegen des Schabbats ausgeschaltet. Als unser Nachbar dann aber Details erzählte, habe ich zum ersten Mal, seit ich ein Smartphone besitze, am Schabbat damit kommuniziert. Was wird wohl morgen geschehen?"

Heute mit Sonnenuntergang beginnt "Schabbat Bereschit", der Sabbat des Anfangs. Gelesen wird der erste Abschnitt des Alten Testaments, der von der Schöpfung der Welt handelt (also aus dem Buch Genesis). "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde" lauten die vertrauten Worte. Mit ihnen beginnt der Zyklus der jährlichen Tora-Lesungen aufs Neue. Die Worte klingen unwirklich in einer Zeit, in der die Zeichen eher auf Untergang zu stehen scheinen. Gaby schreibt:

"Es zerreißt mich: Die Nachrichten und Bilder aus Israel sowieso, aber auch die Bilder aus dem Gaza-Streifen. Ich lese vom Armee-Aufruf an die Bevölkerung im Norden von Gaza, sie möge fliehen – ja, verdammt, wohin denn? Ich suche nach Informationen, dass Ägypten die Grenzen für Flüchtlinge oder wenigstens für Hilfsgüter öffnet, und finde keine. Kann man ernsthaft verlangen, dass Israel den nach dem Hamas-Massaker mühsam reparierten Zaun für einen nur schwer zu kontrollierenden Verkehr aus und nach Gaza aufmacht? Wie denn?! Ich sage mir immer wieder in verschiedenen Betonungen: Das ist Politik. Das ist Politik. Aber ich kann heute Morgen damit nicht umgehen und weiß nicht, wie ich heute Abend vor dem Essen das Lied von den Friedensengeln singen soll, obwohl gerade das so nötig ist."

Und dann schreibt sie noch über die Familie. Telefonate und WhatsApp Nachrichten sind der verbindende Draht. Denn trotz Krieg und Tod und Leid wird im Haus der Familie ja bald neues Leben geboren werden. (Jutta Hamberger und Gaby Goldberg)+++

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