Der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak zündet die erste Kerze der Chanukkiah an. Die Szene wurde am 01. Dezember 2010 an der Grenze zum Gaza-Streifen aufgenommen. Um Barak stehen Soldaten der israelischen Armee - Foto: © dpa picture alliance/Rafael Ben-Ari

TEL AVIV / FULDA Gespräche aus der Warzone - Teil 11

Israel kann sich keine Schwäche erlauben

08.12.23 - In dieser Woche feiern Juden in aller Welt Chanukka, das Lichterfest. Licht und Geschenke – Chanukka ist ein fröhliches und beliebtes Fest, wenn auch nicht unbedingt das religiös wichtigste im Judentum. In diesem Jahr steht Israel mitten in einem Krieg und kämpft um seine Existenz. Wie feiert man inmitten dieser ‚Lage‘ Chanukka?

Chanukka – mitten im Krieg

Dem historischen Chanukka ging ein Krieg voraus. Den Juden gelang es unter der Führung von Judas Makkabäus im 2. Jahrhundert v. Chr., die hellenistische Fremdherrschaft abzuschütteln, Jerusalem zurückzuerobern und einen unabhängigen jüdischen Staat zu errichten. Chanukka ist aber nicht in der Tora verankert, weil die schon vor den Ereignissen abgeschlossen war.

Und aktuell? Die Waffenruhe ist beendet, die Kämpfe im Gaza-Streifen gehen weiter. Was wird aus den Geiseln? Was wird aus dem Land? Was aus der israelischen Gesellschaft? Wie eine Lösung für den Gaza-Streifen und das Westjordanland finden? Ich finde den Gegensatz zwischen dem Licht, für das Chanukka steht, und dem Dunkel, das die Hamas verbreitet, gleichermaßen erschreckend und bezeichnend. Die Hamas lebt in Tunneln, unter der Erde, weit weg vom Licht – und was man von freigelassenen Geiseln weiß, sind diese Tunnel in mehrfacher Hinsicht Orte des Schreckens und der Angst.

Ein Familienfest

Ich will von Gaby wissen, ob ihre Familie wenigstens an Chanukka zusammen ist, und sie schreibt:

"Leider nicht! Talja und David verbringen Chanukka an ihren Einsatzorten in der Armee. Für David ist besonders bitter, dass er nicht bei Frau und Baby sein kann. Er war nur einen Tag da, weil es der Kleinen nicht gut ging. Aber er ist schon wieder auf dem Rückweg zu seiner Einheit. Immerhin ist Ori da. Er hat an der Front durch eine Explosion einen Gehörschaden erlitten, der behandelt werden muss, was ihm Kranken"urlaub" beschert hat. Wie es danach für ihn weitergeht, weiß er noch nicht."

In Westeuropa und den USA dominieren ab Ende November Weihnachtsbeleuchtung in den Städten und Weihnachtsdeko in den Wohnungen. Wie ist das in Israel – erst recht in diesem Jahr? Ich frage Gaby, und sie schreibt:

"Die Städte werden mittlerweile auch in Israel erleuchtet. Manches erinnert dabei sehr an amerikanische Weihnachtsdekorationen. Allerdings wurde der Feiertagsschmuck wegen des Kriegs stark reduziert. Ich kann mich nicht erinnern, Jerusalem jemals an Chanukka nur mit einigen blau-weißen Lichtgirlanden im Stadtzentrum gesehen zu haben. Normalerweise blinkt und glitzert es schon am Stadteingang! Dass auch Wohnungen geschmückt werden – außer mit Kinderbasteleien – habe ich hier noch nicht gesehen."

Ganz zentral ist die Chanukkia, der Chanukka-Leuchter. Das Hauptritual besteht darin, acht Tage lang abends die Kerzen anzuzünden, um real und symbolisch die Dunkelheit zu vertreiben, die in diesen Kriegstagen ganz besonders belastend ist. Gaby schreibt:

"Es ist üblich, dass für jedes Familienmitglied eine Chanukkia aufgestellt wird. Wichtig ist, dass die Kerzen koscher sind und mindestens eine halbe Stunde brennen. Während sie brennen, soll man nicht arbeiten – das ist die Zeit des gemeinsamen Abendessens. Unsere Leuchter stehen auf dem Herd vor dem Küchenfenster, wo auch die Schabbatkerzen angezündet werden. Viele Familien platzieren ihre Chanukkiot in einem Glaskasten vor der Eingangstür, damit die Kerzen ihr Licht weit verbreiten."

Nach dem Entzünden der Kerzen und den Segenssprüchen wird "Maos Zur" (= Starke Festung) gesungen. Gaby schreibt: "Bei uns fällt der Gesang immer sehr vielstimmig aus, wir erwischen leider nie eine Tonlage, die sich allen Gesangskapazitäten unserer Familie anpasst. Der Liedtext vom Sieg der Juden über die Griechen ist ziemlich blutig. Ich schätze, dass in diesem Jahr in einigen Feiertagsreden Analogien zur gegenwärtigen Situation gezogen werden. Die Melodie würdest Du sofort erkennen – "Nun freut euch liebe Christen g’mein" ist nämlich ein bekanntes Kirchenlied von Martin Luther."

Sufganiot, Latkes und Dreidel

Das typische Gebäck zu Chanukka sind die Sufganiot – auf fuldisch: Kräppel. Diese ...© Gaby Goldberg

Zu jedem jüdischen Feiertag gehört Essen, an Chanukka gibt es Sufganiot – auf fuldisch: Kräppel. Wie bei uns zur Foaset werden sie in vielen Bäckereien in unzähligen Varianten und allen Farben des Regenbogens angeboten. Es wird auch gespielt, mit dem Dreidel, einem speziellen Chanukka-Kreisel, und die Kinder erhalten kleine Geschenke. Das dürfte durch Weihnachten inspiriert sein. Gaby schreibt: "Gerade in diesem Jahr versucht man, diese Tradition aufrecht zu erhalten. Es vergeht kein Tag, an dem nicht um Spenden gebeten wird, um für evakuierte Kinder und ihre Familien eine kleine Feier zu organisieren. Auch Talja ist diesbezüglich intensiv im Einsatz."

Israel kann sich keine Schwäche erlauben

Während man in Israel versucht, sich nicht unterkriegen zu lassen und auch symbolisch Zeichen der Hoffnung setzt, läuft der Krieg gegen die Hamas mit unverminderter Intensität weiter. Noch immer hält die Hamas rund 140 Menschen gefangen, darunter zwei Kinder und etwa ein Dutzend Frauen. Kein Tag, an dem im Land nicht an sie erinnert wird, z.B. mit "Those we have lost", einem ergreifenden Projekt der Zeitung Times of Israel, die nach und nach allen, die ermordet wurden oder noch vermisst werden, ein Andenken setzt. Es zeigt Menschen in glücklichen Tagen, Babys, Kinder, Frauen, Männer – Soldatinnen und Soldaten. Ich nehme es auch als Aufschrei und Anschreien gegen die anonymen Tode während der Shoah wahr. Die Opfer des. 7. Oktober haben ein Gesicht und ein Leben: https://www.timesofisrael.com/spotlight-topic/those-we-have-lost/

Ein Land im dauernden Verteidigungszustand

Auf der anderen Seite verursacht auch Israel viel Leid. Die dringlichen Bitten der Verbündeten nach mehr Humanität im Umgang mit der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen machen mich dennoch immer ratlos. Wie kämpft man ‚human‘? Dass es im Gaza-Streifen inhuman zugeht, ist den Kampfbedingungen und der Hamas geschuldet, die Zivilisten als Schutzschilde missbraucht und Hilfsgüter für sich reklamiert. Was genau sollen die Israelis denn tun? Joschka Fischer hat es in einem Interview in der ZEIT auf den Punkt gebracht: "Israel kann sich Schwäche nicht erlauben. Sonst wird es nicht mehr existieren."

Am 14. Mai 2023 feierte Israel das 75-jährige Jubiläum seiner Gründung (1948). Bereits einen Tag danach wurde der Gründungsenthusiasmus des jungen Staates durch den Angriff einer arabischen Allianz gedämpft, die den entstehenden jüdischen Staat beseitigen wollte. Der Krieg endete 1949 mit einem Sieg Israels. Da sich die arabischen Staaten nicht einigen konnten, kam es nicht zur Gründung eines palästinensischen Staats, wie es der UN-Teilungsplan vorgesehen hatte. Man kann also mit Fug und Recht sagen, dass die damalige Flucht und Vertreibung – die Araber nennen sie "Nakba" (= Katastrophe) – von ca. 700.000 palästinensischen Arabern auch viel mit den arabischen Nachbarstaaten Israels zu tun hatte. Genauso richtig ist, dass Israel vielleicht bis heute nicht verstanden hat, wie zentral die Nakba im palästinensischen Selbstverständnis ist.

Seit 1948 begleiten Angriffe und Kriege die Existenz Israels, das selbst nie angegriffen hat, sondern sich immer wieder verteidigen musste. Deshalb heißt die Armee auch IDF – Israel Defence Forces. Gabys Kommentar dazu klingt bitter:

"Dass es Israel um Verteidigung geht, wird von der Welt allerdings kaum wahrgenommen. Das Ausland reagiert in der Regel erst bei israelischen Gegenmaßnahmen nach Terrorattacken. Dass denen immer Provokationen und Angriffen mit Verletzten und manchmal sogar Toten vorausgingen, ist keiner Zeitung eine Notiz wert. Auch an den dauernden Raketenbeschuss aus Gaza haben sich die internationalen Medien gewöhnt und sparen sich die Berichterstattung. Für uns aber ist das Alltag. Jeden Tag."   

Wer beständig Angriffen ausgesetzt ist, wer sich beständig verteidigen muss, wer weiß, dass er von Feinden umgeben ist, hat eine andere Mentalität als jemand, der Krieg nur aus den Erzählungen der Eltern und Großeltern oder aus dem Fernsehen kennt. Wer deutsche Sicherheit und Bequemlichkeit gewohnt ist, für den ist der israelische Alltag weiter weg als der Mond. Gaby schreibt:

"Im Grunde ist hier jede Generation traumatisiert. Uns alle verbindet das aus den Erfahrungen der Shoah erwachsene "Nie wieder!", das setzt auch den Grundton des Miteinanders. Uns verbindet aber genauso, dass sich unsere Welt – wie am 7. Oktober – innerhalb von Sekunden drastisch verändern kann und die Sicherheit, in der man sich wähnte, pulverisiert wird. Wir überleben mit Improvisationstalent und der Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten."

Nachdenkliche Worte. Ich erinnere mich an unseren Austausch bei Gabys letztem Besuch in Fulda in diesem Sommer, als wir auch über Rigorosität und Ambiguitätstoleranz sprachen. Wir waren uns einig, dass die Israelis den Umgang mit Ambivalenzen weitaus besser beherrschen als die Deutschen mit ihrer Lust an Regeln, ja, nein und nichts dazwischen, gründlichen Prozessen und langwierigen Entscheidungen.

Das Wunder von Chanukka war die wundersame Ölvermehrung, sodass die Chanukkiah acht Tage leuchtete. Ein Wunder aber kann immer geschehen, auch heute. Chanukka als Fest des Lichts bedeutet vielleicht, alle Tage wieder leuchten zu lassen, Licht zu sein und Licht zu bringen – das ganze Jahr hindurch. Dann, vielleicht, entstehen neue Gedanken, wie die Zukunft zwischen Israelis und Palästinensern aussehen kann. (Jutta Hamberger und Gaby Goldberg) +++

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