Mitglieder der jüdischen Gemeinde erinnern auf dem Gustaf-Gründgens-Platz an die von der Hamas entführten Geiseln mit einer Solidaritätsaktion. Zwei lange Tische mit über 200 leeren Tischen wurden aufgestellt. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7.Oktober kam es deutschlandweit zu zahlreichen Reaktionen. - Foto: picture alliance/dpa | Roberto Pfeil

TEL AVIV / FULDA Gespräche aus der Warzone - Teil 10

Eindrücke Nahostkonflikt: Jeder Tag ist einer zuviel

27.11.23 - "Von der Armee kam die Nachricht, dass Oris Einheit in Ordnung ist. Möge es so bleiben! Ich habe heftiges Bauchgrummeln: Freitag – Freitagsgebet – Freitagspredigt – Freitagsdemonstrationen, und vielleicht auch Freitagsmarsch in Gaza von Süd nach Nord? Mausefalle. Freitage sind in unserer Region problematisch."

Ein schmutziges Geschäft

So beginnt Gabys und meine Korrespondenz am Freitag, dem 24. November, dem Tag, an dem die ersten Geiseln freikommen sollen. Sehr optimistisch ist Gaby nicht, sie schreibt:

"Um die Lage auf Israels Kosten eskalieren zu lassen, bedarf es nur einer kleinen Provokation, so dass die Armee die Leute mit Zwang daran hindern muss, ins Kampfgebiet zurückzukehren. Ganz zu schweigen von einer gezielt in Gang gesetzten Schießerei. Dann scheitert nicht nur das Geiselgeschäft, das mir von Tag zu Tag fragwürdiger erscheint. Dann würde sich die Welt in einem lauten, ‚israelkritischen‘ Aufschrei vereinen, der dem Land jede Unterstützung entzieht. Die Eskalation an der Nordgrenze trägt auch nicht zur Beruhigung bei. Die Hisbollah will sich zwar an die Feuerpause halten, obwohl sie nicht am Deal beteiligt ist, das wird aber nicht funktionieren, wenn sich ein Szenario wie skizziert entwickelt. Übrigens: Die ‚Waffenruhe‘ begann um 07:15 Uhr mit Raketenbeschuss aus Gaza auf die beiden Orte Kisufim und Ejn Ha-Schloscha, sie liegen beide im Grenzgebiet. Der Kibbuz Nir Oz war eine halbe Stunde vorher dran, also noch vor der Waffenruhe."

Bring them home

Wie muss man diesen ‚Geisel-Deal‘ eigentlich finden? Ist ein solcher Menschenhandel ok? Wir sind uns einig, nein, eigentlich nicht, es ist ein schmutziges Geschäft. Wir sind uns aber auch einig, dass es deutlich weniger schmutzig ist, als unschuldige Menschen zu entführen und in Geiselhaft zu nehmen. Trotzdem. Meine Gedanken wandern in den Oktober 1977, den Deutschen Herbst, als Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe Hanns-Martin Schleyer kidnappten und dafür elf Gesinnungsgenossen, untern ihnen Andreas Baader und Gudrun Ensslin, freipressen wollten. Die Bundesrepublik blieb standhaft und erklärte, mit Terroristen verhandele man nicht. Palästinensische Terroristen entführten zur Unterstützung ihrer deutschen Kollegen die Lufthansa-Maschine Landshut nach Mogadischu. Statt Terroristen freizulassen, schickte die deutsche Regierung die GSG 9. Die befreite die Passagiere, Baader, Ensslin und Raspe begingen Selbstmord, Schleyers Leiche wurde wenige Tage später gefunden.

Welches Vorgehen ist ‚richtiger‘? Ist dieses Wort überhaupt angemessen? In Israel jedenfalls ist die Meinung einhellig: Bring them home – alle Geiseln müssen zurückgeholt werden. Gaby schreibt dazu: "Das ist genereller Konsens, egal mit wem du sprichst, auch in meiner Familie, völlig unabhängig von den auch bei uns recht divergierenden politischen Positionen. Aber: Für uns alle ist dieser Deal mit mehreren fetten "Abers" verbunden, denn er enthält eine Menge Gift, Gift, das täglich freigesetzt wird und auf unsere Psyche wirkt. Einerseits werden – logisch und erwünscht – zuerst Kinder frei gelassen. Der Deal lautete, sie sollten mit ihren Müttern zurück nach Israel gebracht werden. Gegen diese Vereinbarung hat die Hamas bereits verstoßen: Die 13-jährige Hilla Rotem etwa kam ohne ihre Mutter Raya nach Hause.

Andererseits gibt es Kinder, deren Mütter am 7. Oktober ermordet und die zusammen mit ihrem Vater oder mit anderen Verwandten entführt wurden. Ihre Familienmitglieder sind im Befreiungsabkommen nicht enthalten. Warum? Dann ist da noch die Gruppe der Kinder, deren Aufenthaltsort die Hamas angeblich nicht kennt und die deshalb einfach Pech haben."

Aber nicht nur Kinder und ihre Mütter sind gefangen, auch andere Erwachsene, darunter Soldaten. Was ist mit ihnen? Ich frage Gaby, ob stimme, was hier berichtet wird, dass vor allem ihr Schicksal ungewiss sei, weil sie für die Hamas besonders ‚wertvoll‘ seien. Wieder so ein Wort! Natürlich sind sie wertvoll, weil jedes Menschenleben wertvoll ist. Aber ich befürchte, das ist nicht die Interpretation der Hamas. Gaby antwortet:

"Die Hamas ist bei Soldaten eher an Armee-Einheit und Rang interessiert, um Informationen zu erpressen. Es gibt rund 180 Geiseln im Gaza-Streifen, über deren Freilassung noch gar nicht gesprochen wurde: alle Erwachsenen zwischen 19 und Mitte 80 – darunter die Soldaten. Die Ungewissheit zerrt an den Nerven: nicht zu wissen, wer zurückkehrt, nicht zu wissen, in welchem Zustand, nicht zu wissen, ob die Geiseln über die Ereignisse in Israel informiert sind. Manche wissen nicht, dass ihre nächsten Angehörigen ermordet wurden. Genauso belastend sind die taktischen Spielchen der Hamas: Immer wieder wirft sie Israel fälschlich vor, den Waffenstillstand verletzt zu haben und verzögert deshalb die Geiselübergabe."

Dafür ist kein Preis zu hoch

So haben wir es am Samstagabend erlebt. Die Hamas weiß nur zu genau, dass Israels Haltung auch inkludiert, schmerzliche Deals einzugehen, und erpresst Israel damit nach Belieben. Ich frage Gaby, ob Israels Haltung so etwas wie ‚Staatsräson‘ sei und sie antwortet: "Ja, und Israel ist da sehr verwundbar. Denke mal zurück an den 2006 in den Gaza-Streifen entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit, der 2011 gegen 1.027 palästinensische Häftlinge ausgetauscht wurde. Damals war Netanyahu Ministerpräsident. Immerhin kam Shalit lebend zurück. Man kann sich also ausrechnen, was uns erwartet, sollte es weitere Verhandlungen zur Befreiung der Geiseln im Gaza-Streifen geben. Die Hamas hat bereits angekündigt, dass sie die Feuerpause verlängern und den Austauschquotienten dann erhöhen will."

Ich frage Gaby, wie präsent ihr der Fall Shalit noch ist und welche Bedeutung er in diesen Wochen hat, und sie schreibt: "Ich erinnere mich noch sehr gut an die Kampagne zur Befreiung von Shalit, der im öffentlichen Bewusstsein vom regulären Wehrpflichtigen zu ‚unserem Jungen‘ wurde, den man nicht im Stich lassen durfte, weil er mit seinem Wehrdienst Verantwortung übernommen und seinen Teil zum Funktionieren dieses Staates beigetragen hatte. Umgekehrt musste der Staat für seine Rückkehr sorgen.

Dahinter steht eine große Idee: Aus gegenseitiger Verantwortung erwächst Solidarität, und aus dieser Solidarität speist sich die Widerstandskraft Israels. Große Worte, ich weiß, und ich weiß auch, dass sie bei der Diskussion um die Justizreform zeitweise außer Kraft gesetzt schienen. Die Botschaft jetzt ist glasklar: Das Land tut alles, um seine Bürgerinnen und Bürger aus Gefahr zu retten. Immer. Im Falle der Entführungen durch die Hamas um so mehr, weil es um Zivilisten geht, bei deren Schutz der Staat jämmerlich versagt hat. Er ist also verpflichtet, sein Versagen zu korrigieren. Die Geiseln müssen nach Hause gebracht werden, weil sonst das Zuhause keinen Wert mehr hat. Dafür ist kein Preis zu hoch."

"Pidyon Shvuyim" – die Befreiung jüdischer Gefangener

Das große Wir – ja, das ist eine sehr große Idee. Aber doch auch eine überzeugende, der man sich kaum verschließen kann. Ich will wissen, ob das die meisten Israelis so sehen. Gaby schreibt: "Mit Einschränkungen. Unser Sohn David zum Beispiel, dessen Papa-Urlaub zu Ende ist und der zu seiner Reserveeinheit zurückgekehrt ist, würde gern eine Schranke einbauen. Er will das so haben: ‘Wenn ich während meines Reservedienstes entführt werde, will ich auf keinen Fall gegen mehr als nur einen palästinensischen Häftling ausgetauscht werden: Kopf gegen Kopf, 1:1.‘

Ich finde sehr interessant, dass sich unser ziemlich säkulares israelisches Kriegskabinett bei dem Geisel-Deal auch auf das jüdische Religionsgesetz bezieht. Schon der Talmud beschäftigt sich mit "pidyon shvuyim" (= Befreiung jüdischer Gefangener). Benni Gantz, der einzige Minister im Kriegskabinett, der nicht Netanyahus Likud-Partei angehört, begründete sein Votum für den Geisel-Deal nebst Feuerpause mit zwei halachischen Grundsätzen. Der erste: Wer ein jüdisches Leben unterstützt, der unterstützt die Welt. Der zweite: Ein Zweifel beseitigt die Gewissheit nicht. Mit anderen Worten: Auch wenn unklar ist, ob der Geisel-Deal am Ende Israel mehr schadet als nützt, auch wenn er zusätzliche Opfer fordert: Solange die Sicherheit besteht, dass Geiseln dadurch überleben, muss er abgeschlossen werden."

Je nachdem, wie die ersten Tage der Freilassung verlaufen, werden wir wissen, ob tatsächlich die Bereitschaft besteht, die Geiseln freizugeben oder ob gezielte Provokationen folgen. Wie wohl das ‚danach‘ aussehen kann, aussehen wird? Wobei die Frage bleibt, welches ‚danach‘ genau man meint. Gaby schreibt: "Danach – meinst du nach den vier Tagen Geisel-Deal? Oder am Ende aller Geisel-Deals? Es wird schlimmer werden, der Preis wird steigen. Im Westjordanland feiert man mit den freigelassenen palästinensischen Gefangenen Siegespartys in den Hamas-Farben. Kaum vorstellbar, dass dort Ruhe einkehrt. Die "Azatim" (=Bewohner Gazas) beurteilen das mit großem Zorn: Sie hätten das komplette Leid zu tragen, da könnten die Brüder im Westjordanland mit etwas mehr Sensibilität und Dankbarkeit agieren. Kein großes Wir bei den Palästinensern also – nur in Israel." (Jutta Hamberger und Gaby Goldberg) +++

↓↓ alle 12 Artikel anzeigen ↓↓


Über Osthessen News

Kontakt
Impressum

Apps

Osthessen News IOS
Osthessen News Android
Osthessen Blitzer IOS
Osthessen Blitzer Android

Mediadaten

Werbung
IVW Daten


Service

Blitzer / Verkehrsmeldungen Stellenangebote
Gastro
Mittagstisch
Veranstaltungskalender
Wetter Vorhersage

Social Media

Facebook
Twitter
Instagram

Nachrichten aus

Fulda
Hersfeld Rotenburg
Main Kinzig
Vogelsberg
Rhön