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Es ist kaum zu bewältigen - Welche Zukunft erwartet uns?
18.11.23 - Nach dem brutalen Überfall der Hamas am 07. Oktober wurden etwa 250.000 Israelis zu Flüchtlingen im eigenen Land. Bis auf das nackte Leben verloren sie alles, oft auch Angehörige und Freunde. Sie sind traumatisiert – wie das ganze Land.
"Die schwierigste Frage zuerst: Wie können jetzt ganz schnell, möglichst sofort, die Verletzten in Gaza-Stadt gerettet werden – also die Patienten in den Krankenhäusern, die Neugeborenen und Kinder? Zum Beispiel so: indem sich die Terroristen der Hamas den israelischen Streitkräften ergeben und die Hamas zugleich alle israelischen Geiseln freilässt. Das dürfte für eine Waffenruhe reichen, vielleicht sogar dauerhaft, wenn auch der Raketenbeschuss auf Israel nach nun fünf Wochen und gut 10.000 Abschüssen aufhörte. Der Vorschlag ist, was die Hamas betrifft, leider chancenlos. Aber er soll illustrieren, was jetzt naheliegend wäre – vorausgesetzt, es ginge der Hamas tatsächlich um das Wohl der Palästinenser, was sie immer noch behauptet."
Es gibt keinen einfachen Weg
Das sind nicht meine Worte, sondern die von Evelyn Zimmer in einem Kommentar der ZEIT vom 15. November 2023. Sie bringen auf den Punkt, wo das tatsächliche Problem liegt: Eine Seite will eine Lösung, die andere verweigert genau das. Übrigens: Die israelische Armee bringt Medikamente, Material und benötigte Geräte in die Krankenhäuser, und das, obwohl sie inzwischen nachgewiesen hat, dass die Hamas jedes Krankenhaus im Gaza-Streifen für ihre terroristischen Zwecke missbrauchte. In den Kellern der Krankenhäuser finden sich Sprengstoffwesten, Waffen und Munition. Und überall die berüchtigten Tunnel. Das dürfte deutlich mehr sein als das, was gegnerische Armeen gemeinhin für einen Gegner tun, der sie täglich beschießt und angreift.Die Geschehnisse fordern uns also in unserer Ambiguitäts-Toleranz bis zum Äußersten. Die Armee hilft, und kämpft gleichzeitig. Die Armee zerstört Strukturen der Hamas, und trifft damit auch unschuldige Zivilisten. Es gibt keinen ‚sauberen‘ Kampf gegen einen terroristischen Gegner, der Unschuldige bedenkenlos opfert. All das müssen wir aushalten. Noch ein ‚übrigens‘: Es ist NICHT die Frage an Israel, wie das alles beendet werden soll. Es ist eine Frage an uns alle.
Unglaubliches gesellschaftliches Engagement
Das Feuer in den Kibuzzim war kaum erloschen, da formierten sich die ersten freiwilligen Helfertrupps, online und vor Ort. Viele Israelis nahmen Flüchtlinge in ihren eigenen Häusern auf. Andere sammelten Lebensmittel und Produkte des täglichen Bedarfs oder installierten mobile Waschsalons und Duschen auf Lastwagen, mit denen sie an die Front fuhren. Chefköche kamen mit Foodtrucks und verwöhnten die Soldaten. Andere organisierten Fundraiser und trieben Geld für dringend benötigte Ausrüstungsgegenstände auf. Psychologen boten Hilfe für die traumatisierten Überlebenden an. Prominente kamen zu Besuch, um wenigsten für kurze Zeit für Ablenkung oder Trost zu sorgen. Auch der Winfriedpreisträger des Jahres 2021, Igor Levit tat das, er gab in einem Krankenhaus für Patienten und Personal und für Angehörige der verschleppten Geiseln ein Konzert.War schon diese spontane Hilfe überwältigend, so ist die schnelle Organisation von ‚Kriegshilfezentren‘ mindestens genauso beeindruckend. Getragen wird all das überwiegend von der israelischen Zivilgesellschaft. Viele von denen, die vor dem 7. Oktober regelmäßig auf der Straße waren und gegen die eigene Regierung protestierten, engagieren sich jetzt auf diese Weise für ihr Land. Damit ist die Legende von den ‚Vaterlandsverrätern‘, wie Netanyahus Regierung sie nannte, endgültig als Lüge entlarvt. Es waren die Aktivisten, die als erste Flagge zeigten und ihren Landsleuten zu Hilfe eilten. Nicht die Regierung.
Flüchtlingshilfe im eigenen Land
Auch die Regierung hat sich mittlerweile organisiert und versucht, einen Teil der Volontäraktivitäten zu kanalisieren. Gaby schreibt dazu: "Das ist auch dringend nötig, denn manches lässt sich nun einmal nur mit Hilfe staatlicher Strukturen und Finanzen managen. In der Flüchtlingshilfe etwa arbeiten Erziehungsministerium, Armee und Volontärs-Organisationen Hand in Hand. Eine Viertelmillion Israelis müssen andernorts unterbracht und versorgt werden. Die am Roten Meer gelegene Touristenstadt Eilat hat rund 50.000 Menschen aufgenommen – und damit ihre Einwohnerzahl fast verdoppelt. Ein Gutteil der Evakuierten wohnt auf Staatskosten in Hotels."Gabys Tochter Talja leistet in Eilat zusammen mit 19 anderen jungen Frauen Reservedienst. Ihre Aufgabe für die nächsten eineinhalb Monate: Für die evakuierten Kinder und Jugendlichen einen Rahmen schaffen, der ihnen einen ihrem Alter angemessenen Alltag ermöglicht. Ganz unbefangen könnte man denken, dass das in einer Stadt mit touristischer Infrastruktur und Stränden leichter ist als anderswo, doch das Gegenteil der Fall – zu surreal ist die Ferienkulisse. Ich frage Gaby nach Taljas Erfahrungen in ihrer ersten Eilat-Woche.
"Es ist heftig," schreibt sie mir. "Jede Reservistin ist verantwortlich für ein Hotel. Taljas Hotel ist eines der größten im Ort, darin sind 1.000 Menschen untergebracht, 450 davon sind Kinder und Jugendliche. Die Familien – oder das, was von ihnen übriggeblieben ist – teilen sich seit Kriegsbeginn ein Zimmer. Traumatisiert sind alle, sie kommen zwar zum Essen, verkriechen sich aber ansonsten. Es ist schwer, ihr Vertrauen zu gewinnen. Talja hat mir einen Dialog mit einem Vorschulkind wiedergegeben, der an ihrem ersten Abend stattgefunden hat: Der Junge fragt mich: ‚Bist du Armee?‘ ‚Ja,‘ sage ich. ‚Kommst du wieder?‘ fragt er. ‚Ja, klar‘, sage ich. ‚Mein Papa ist auch in der Armee. Aber er kommt nicht wieder.‘ sagt er.
Talja sagt, sie sei glücklich, wenn die Kinder wenigstens reden – nicht alle sind dazu in der Lage, noch viel weniger, an Aktivitäten teilzunehmen."
Der Satz, den man hier oft lesen oder hören konnte – das ganze Land sei seit dem 7. Oktober traumatisiert – wird auf einmal greifbar, aber noch lange nicht begreifbar. Wie muss man sich die Arbeit vor Ort vorstellen? Gaby berichtet:
"Ich habe lange mit Talja darüber gesprochen. Sie hat mir ihre Aufgabe beschrieben, die im größtmöglichen Chaos erledigt werden muss, weil niemand wirklich einen Überblick hat. Das Erziehungsministerium hat die Reservistinnen beauftragt, Krabbelgruppen, Kindergartenbetreuung und eine Art Rumpfschule für alle Altersgruppen zu organisieren – all das ohne ein Budget. Das schreckt unsere Tochter nicht wirklich, denn im Einwerben von Spenden ist sie erfahren. Nach einem ersten Aufruf in unserem Wohnviertel stapeln sich bei uns zuhause schon die ersten Kisten mit Lehrbüchern, die Talja nach Eilat mitnimmt, wenn sie das nächste Mal zuhause ist. Ein Riesenproblem ist die Suche nach Betreuer/innen für die Kleinkinder."
Gaby erzählt weiter: "Die weitaus größte Schwierigkeit ist, dass Talja für alles, was sie zu organisieren hat, gerade mal eineinhalb Räume im Hotel zur Verfügung stehen, obwohl nach Ministeriumswunsch alle Altersstufen zwischen 10 und 18 Uhr irgendwie "bedient" werden müssen. Ins Freie gehen kann man nicht, denn Eilat liegt im Raketeneinzugsgebiet. An dem Tag, als Talja und ich zum ersten Mal telefonieren, gab es zweimal Alarm. In Eilat hast Du exakt 30 Sekunden, um einen Schutzraum aufzusuchen."
Gaby hat mir schon oft erzählt, dass alle Israelis je nach Wohnort mit 30 bis 90 Sekunden Zeit für Weg in einen Schutzraum klarkommen müssen. Nur, wie zur Hölle machst Du das, wenn Du für kleine Kinder zu sorgen hast? Gaby erzählt mir, was Talja ihr genau dazu gesagt hat:
"Ich höre die Sirene, mein Körper reagiert automatisch, ich renne los. Dann fällt mir siedend heiß ein, dass ich ja Kinder dabei habe. Ich renne zurück zu ihnen und versuche, sie zum Schutzraum zu bringen. Aber einige von ihnen bleiben einfach wie eingefroren stehen. Ich höre das "Bumm" des Iron Dome beim Abfangen der Raketen, einige Kinder kippen um und fallen in Ohnmacht. Auch manchen Eltern passiert das – eine Reaktion auf das Trauma des 7. Oktober. ‚Ein Dach über dem Kopf und Essen sind nicht genug.‘ Mehrmals wiederholt Talja diesen Satz."
Mit der arabischen Freundschaft ist es nicht weit her
Bei unserem Austausch merken wir, dass in unseren Köpfen ziemlich ähnliche Filme ablaufen: Filme aus Gaza, wo Flüchtlinge häufig kein Hausdach, sondern nur ein Zeltdach über dem Kopf haben, und oft genug nicht einmal das. Gaby schreibt:"Diese Bilder sind einfach nur zum Weinen, und selbstverständlich stelle ich mir die Frage, ob und wie die Armee die zivilen Opfer hätte vermeiden können. Ich habe keine Antwort darauf, denn die einzige mögliche, nämlich Stopp, ist aus israelischer Sicht keine Option, solange nicht einmal die Geiseln befreit sind. Wir sind im Krieg."
Ägypten könnte schnelle Hilfe anbieten. Aber die Frage, ob sie wenigstens Neugeborene aus dem Al-Schifa-Krankenhaus aufnehmen würden, verneinte der ägyptische Außenminister Samih Schukri, man hätte dazu nicht die Fähigkeiten. Das reiht sich ein in die schier endlose Kette sogenannter Freundschafts- und Solidaritätsbekundungen arabischer Länder mit den Palästinensern, die allesamt nichts wert sind. Die bittere Wahrheit ist: Auch ihnen sind die Palästinenser völlig egal. Sie liefern Waffen und brüllen auf den Straßen, aber da geht es ja um die Auslöschung Israels und nur vorgeblich um die Palästinenser.
Welche Zukunft erwartet uns?
Ich versuche, über den Krieg hinaus zu denken, soweit es mir möglich ist. Welche Zukunft erwartet Israel, welche besonders die Kinder, welche Gabys Enkelkind, das vor wenigen Tagen endlich geboren wurde und in all den Sorgen für so viel Freude sorgte? Ein Schabbat-Kind – wir würden sagen, ein Sonntagskind. Möge es der Kleinen Glück bringen! Gaby schreibt:"Sie ist endlich da, unser kleines Mädchen. Unsere Schwiegertochter Nata hat schwer dafür gearbeitet. Selbstverständlich ist das Kind das niedlichste Baby unter der Sonne, und selbstverständlich hat es das Goldberg-Kinn. David, der bei der Geburt dabei war, wurde sogar vom Krankenhauspersonal auf die Ähnlichkeit angesprochen. Auch Ori hat seine Nichte schon gesehen – er durfte für zwei Tage nach Hause."
Gaby schildert mir die anrührende Szene, zu der es zwischen den beiden Brüdern kommt: "Ori wiegt das Baby, und die beiden sprechen über Geburten – auf der einen Seite der völlig überwältigte, glückstrahlende, frischgebackene Vater David, auf der anderen Seite Ori, der als Paramedic im Krankenwagen bereits 70 Kinder auf die Welt gebracht hat. Er, der bisher in den Schilderungen seiner Arbeit immer den schwierigen Aspekt von Geburten betonte, kapituliert vor dem Charme seiner Nichte – und vor der Hoffnung, die mit ihr verbunden ist." (Jutta Hamberger und Gaby Goldberg) +++