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Diese schwarze Wolke über meinem Kopf
03.11.23 - Als am vergangenen Samstag um 10:17 Uhr eine WhatsApp-Nachricht von Gaby auf mein Handy läuft, bin ich hellwach und – ohne sie gelesen zu haben – erschrocken. Denn ich weiß, sie hält den Schabbat ein und benutzt ihr Handy an diesem Tag nicht. Es ist nur ein Satz: "Jutta, Ori wird in den Einsatz geschickt." Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter, mir ist klar, was das bedeutet.
No news is good news
Den ganzen Tag über bin ich unruhig, höre zwischendrin nur dies von ihr: "Ich funktioniere gerade nicht." Wie auch? Abends antwortet Gaby mir auf meinen Gutenachtgruß: "Jetzt haben sich unsere Gedanken überschnitten – ich wollte mich vor dem Schlafengehen noch kurz melden. Ich funktioniere wieder, wie lange und wie gut, wird sich zeigen." Und dann schickt sie mir noch ein Bild ihres Sohnes mit zwei Sanitäterkollegen von der Front, es wurde tags zuvor aufgenommen. Ich frage, wie die Familie nun Kontakt hält. "Gar nicht", ist ihre Antwort, denn "alle Soldaten mussten ihre Telefone abgeben. Wir haben die Nummer eines Verbindungsoffiziers für den Fall, dass wir etwas Wichtiges mitzuteilen haben. Und es gibt eine Whatsapp-Gruppe der Soldatenfamilien. Ansonsten gilt: No news is good news."
Auch das ist uns kaum noch vorstellbar, wir, die wir 24/7 am Handy kleben und gewohnt sind, jederzeit und sofort alles online zur Verfügung zu haben. In Israel ist auch das derzeit anders. Gaby schreibt:
"In unregelmäßigen Abständen erhalten wir Kurznachrichten von der Armee, die sich im Wortlaut kaum unterscheiden. Die heißen dann immer so in der Art: ‚Alles bestens, hohe Moral'. Auch wenn das bewusst unverbindlich gehalten ist, es erleichtert mich ungemein. Was mir aber zu schaffen macht, ist der Zeitpunkt der Nachrichten – man weiß nie, wann sie kommen. Für mich wäre eine feste Tageszeit leichter. Dann würde ich nicht automatisch versuchen, den Text in einen Gesamtkontext einzuordnen und zwischen den Zeilen zu lesen versuchen."
Ich kann es nachvollziehen. Die absichtliche Vagheit schützt zwar alle Beteiligten, lädt aber auch dazu ein, sich das Schlimmste auszumalen. Gaby dazu:
"Gestern z.B. vermeldete der Armeesprecher bei einem öffentlichen Auftritt, dass die Armee schon viel erreicht habe, aber das habe seinen Preis. In die Alltagssprache übersetzt bedeutet das: Es gab Tote, aber noch werden keine Namen veröffentlicht, weil die Angehörigen noch nicht benachrichtigt sind. Die schwarze Wolke, die über meinem Kopf schwebt, senkt sich langsam bis auf meine Schultern und hebt sich erst am späten Abend, als in unserer Gruppe die Entwarnung kommt: Alle sind gesund."
Die toten Soldaten gehören also einer anderen Einheit an. Das ist nur bedingt erleichternd, denn in einem so kleinen Land wie Israel ist die Chance, dass es dennoch persönliche Querverbindungen gibt, groß. Und genauso ist es, Gaby schreibt:
"Heute, am Mittwochnachmittag, sind es 15 tote Soldaten, 14 von ihnen sind junge Wehrpflichtige, 19 und 20 Jahre alt. Die haben gerade ihr Abitur gemacht, die Armee-Grundausbildung absolviert und sich garantiert keinen Kriegseinsatz ausgesucht. Einer von ihnen war Absolvent der Schule in Galiläa, an der Talja unterrichtet."
Und nach einer Pause: "Talja ist fix und fertig, sie erzählt von weinenden, verzweifelten Schülerinnen und Schülern, von überfordertem Lehrpersonal und davon, dass sie als Referendarin von der Schule allein gelassen wird und keine Unterstützung im Umgang mit ihren Klassen erhält."
Mit Harry Potter gegen den Schrecken des Kriegs
Ich lese das und frage mich, ob man Lehrer und Lehrerinnen, Schülerinnen und Schüler überhaupt auf so etwas vorbereiten kann – wo doch ein ganzes Land völlig überrascht worden ist. Wie gehst du damit um, erst recht, wenn du noch wenig Berufserfahrung hast und wenn keiner da ist, den du um Rat fragen kannst, weil alle um dich herum genauso ratlos und verzweifelt sind wie du selbst? Auf meine Frage antwortet Gaby:
"In ihrer Ausbildung kam ein solches Szenario nicht vor. Eigentlich soll Talja Geschichte unterrichten, aber jetzt liest sie ihren Acht- und Neuntklässlern ‚Harry Potter und der Stein der Weisen‘ vor. Das scheint zu funktionieren."
Sie sind nicht die einzigen Kinder, die in Krisen Zuflucht bei Harry Potter suchen. Und nein, das ist keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern ein Programm der Selbststärkung. Harry Potter erfährt immer wieder Ablehnung, kommt in gefährliche Situationen und muss zahlreiche Prüfungen bestehen. Es geht um Angst, Verzweiflung – aber eben auch um Freundschaft. Und Harry Potter wächst über sich hinaus. Darin steckt viel Ermutigung und Trost.
Zu viele falsche Narrative
Uns beide drücken die antisemitischen Demonstrationen und Anschläge auf der ganzen Welt schwer aufs Gemüt. Was geschieht da gerade? Warum geschieht das? Keine von uns beiden ist so naiv, anzunehmen, es gäbe keinen Judenhass mehr. Aber in dieser Menge, in dieser Wucht, mit diesem Gewaltpotential? Mich macht es verzweifelt sprachlos.
Ich verstehe, dass es schwer ist, angesichts der täglichen Bombardierungen des Gaza-Streifens, die natürlich nicht nur die Hamas und ihre Strukturen, sondern auch viele Zivilisten treffen, klaren Kopf zu bewahren. Die täglichen Nachrichtenbilder überlagern die des Grauens vom 7. Oktober. Den Krieg der Bilder und den Krieg um die Sympathie der Welt habe Israel schon verloren, war dieser Tage zu lesen. Gaby schreibt:
"Zwei Nachrichtensplitter will ich noch loswerden: In der New York Times haben arabische und westliche Offizielle – natürlich anonym – bestätigt, dass die Hamas Nahrung und Benzin hortet (uns glaubt man das ja nicht und hält das für israelische Propaganda.) Und einer oder zwei der am 7. Oktober gefangenen Terroristen haben zugegeben, dass sich die Kommandozentrale der Hamas unter dem Al-Schifa-Krankenhaus befindet. Von der Hamas wird das als israelische Indoktrination abgetan."
Der Zynismus der Hamas
Auch deutsche Zeitungen haben darüber berichtet. Die Hamas benutzt dieses Krankenhaus offenbar als Kommando- und Kontrollzentrum. Aus verschiedenen Abteilungen des Al-Schifa-Krankenhauses heraus werden "Terroraktivitäten" und Raketenabschüsse befohlen und kontrolliert. Und das Al-Schifa-Krankenhaus ist nicht das einzige, das die Hamas so missbraucht. Wie kann man eine Organisation, denen ein Menschenleben nichts wert ist, als Befreiungsorganisation bezeichnen? Die Menschen im Gaza-Streifen hungern, haben kein Benzin, um Generatoren zu betreiben – und die Hamas hortet all das für sich?
Als ich das Gaby schreibe, schickt sie mir eine Meldung vom 30. Oktober, die auf der Seite von MEMRI (https://www.memri.org) erschienen ist, einer Organisation, die islamische Medien beobachtet. Dort erklärte Mousa Abu Marzouk, ein Mitglied der politischen Hamas-Führung, in einem Interview mit dem TV-Sender Russia Today, die Tunnel im Gaza-Streifen habe die Hamas gebaut, um sich selbst vor israelischen Luftschlägen zu schützen, nicht etwa zum Schutz der Zivilisten. 75 Prozent der Bevölkerung von Gaza würden als Flüchtlinge definiert, deren Schutz sei Aufgabe der UN. Außerdem verantworte nach Definition der Genfer Konvention die "Besatzungsmacht" die Versorgung von Zivilisten. Gaby kommentiert das so:
"Ist das nicht der Gipfel des Zynismus? Mit ‚Besatzungsmacht‘ meint Abu Marzouk Israel. Allerdings verschweigt er eine Kleinigkeit: Israel hat den Gaza-Streifen 2005 komplett geräumt, sogar die jüdischen Gräber wurden nach Israel umgebettet."
Land gegen Frieden, so nannte Ariel Sharon diesen Abzug damals. Es hat aus sehr vielen Gründen nicht funktioniert, der Hauptgrund heißt – Hamas. Insofern: Ja, im Gaza-Streifen gibt es eine Besatzungsmacht. Die heißt aber nicht Israel, sondern seit 2007 Hamas. Es dürfte wenige Weltgegenden geben, in die so viele Milliarden an internationalen Hilfsgeldern geflossen sind wie in den Gaza-Streifen, und doch gehört dessen Bevölkerung zu den ärmsten der Welt. Die NZZ schrieb am 10. Oktober, seit der Machtübernahme der Hamas im Gaza-Streifen hätten sich die Lebensbedingungen dort massiv verschlechtert. Die Israelis wissen nur zu genau, warum, und auch, was von den Hilfsgeldern bezahlt wurde – Tunnel, Raketen und Waffen. Die NZZ schließt ihren Artikel mit diesem Satz: "Das grundlegende Problem im Gaza-Streifen besteht wohl darin, dass mit der Hamas ein Regime an der Macht ist, das mehr Wert darauf legt, Israel zu zerstören als die wirtschaftliche Lage der eigenen Bevölkerung zu verbessern."
Die Ahnungslosigkeit vieler Menschen, das bewusste Weghören und Wegsehen und der Antisemitismus verbinden sich mit der zynischen Kommunikation und der Täter-Opfer-Umkehr seitens der Hamas zu einem giftigen Gebräu. Wir werden viel Kraft brauchen, um der antiisraelischen und antijüdischen Stimmung zu widerstehen. (Jutta Hamberger und Gaby Goldberg) +++