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Ein israelischer Soldat in den Trümmern eines Hauses in Kibbutz Beeri, nach den tödlichen Angriffen der Hamas. - Foto: picture alliance / REUTERS | Ammar Awad

TEL-AVIV/FULDA Gespräche aus der Warzone – Teil 6

Von Kindesbeinen an auf Krieg eingestellt

28.10.23 - Wer hat’s gesagt? Die Hamas ist eine "Befreiungsorganisation". "Free Palestine from German guilt." Der Hamas-Angriff hat "nicht im luftleeren Raum" stattgefunden. "Hilf unseren unterdrückten Brüdern in Palästina, damit sie den Sieg erringen." Dieses Rätsel des Grauens löst sich wie folgt auf: Erdogan. Die deutsche Linke. UNO-Generalsekretär António Guterres. FC Bayern-Fußballer Noussair Mazraoui.

Relativierungen, die wütend und traurig machen

All diese Relativierungs-Beispiele machen eins klar: Antisemitismus versteckt sich hinter vielen Gewändern und Äußerungen. Und er ist keine Sache der Muslime allein, im Antisemitismus treffen sich in Deutschland Menschen, die sonst in völlig verschiedene politische Lager gehören.

Gaby schreibt dazu: "Ich versuche, schon aus Selbstschutz vor Hass und der mich würgenden Lage, meinen Medienkonsum zu begrenzen – schließlich muss ich funktionieren, einen Haushalt organisieren, arbeiten, ansprechbar bleiben. An ‚gemüts-mittelgrauen‘ Tagen verfolge ich dreimal am Tag den Newsfeed von zwei israelischen Zeitungen, eine in Hebräisch (für die innerisraelische Analyse), eine in Englisch (für den Blick auf die USA). An ‚gemüts-dunkelgrauen‘ Tagen kommen die Ticker von zwei deutschen Zeitungen dazu, von denen ich mir mehr Auskunft über die deutsche und europäische Haltung verspreche."

Feuerpausen und Lkw-Kontrollen

Ich schicke Gaby wieder ein Paket mit Artikeln aus diversen Medien, darin auch die Forderung der EU nach Feuerpausen zu humanitären Zwecken. Aus der ursprünglich geforderten Feuerpause sind Feuerpausen geworden – und nein, das ist nicht nur ein semantischer Unterschied. Mit stundenweisen Feuerpausen konnte sich auch Deutschland, respektive Bundeskanzler Scholz, anfreunden. Gaby antwortet:

"Die EU-Forderung verstehe ich, Gaza muss die Hölle sein. Ich habe nur wenige Bekannte dort; von zweien habe ich über verschlungene Kommunikationspfade gehört, dass sie und ihre Familien unverletzt sind, aber im Kampf ums Überleben verzweifeln. Schwer nachzuvollziehen: Eine der Familien hat sich vom Süden des Gazastreifens trotz des israelischen Beschusses im Norden wieder auf den Weg zu ihrem Haus dort gemacht.

Aber die mit dieser Forderung verbundene Kritik von Cindy McCain, der Chefin des Welternährungsprogramms, die Sicherheits-Checks der LKWs am Grenzübergang Ägypten/Gaza auszusetzen, weil die zu viel Zeit kosten, stößt mir auf. Klar – warum sollten aus McCains Sicht ein paar Raketenteile zwischen Brotpaketen einen Unterschied machen? Die Dame lebt ja nicht in Israel. Auf so was kann ich nur mit Zynismus reagieren."

Von Kindesbeinen an auf Krieg eingestellt

Gaby schreibt weiter: "Im Vergleich zu den Menschen im Gaza-Streifen geht es uns im Landesinneren von Israel physisch ‚gut‘: Dauerbedrohung zwar, aber Schutzräume bei Raketenalarm, Wasser und Nahrungsmittel, die mein von Kindesbeinen an kriegserfahrener Mann Zeev bereits vor Kriegsbeginn eingelagert hatte. Ich habe seine Vorratshaltung immer bespöttelt. Jetzt lerne ich sie schätzen."

Von Kindesbeinen an auf Krieg eingestellt. Diesen Satz lese ich mehrmals. Kann ich mir das überhaupt vorstellen? Nein, wie denn? Ich lebe in Deutschland, mir geht es gut, uns geht es gut – bei allen Problemen, die wir zu lösen haben. Wir werden nicht täglich von Bomben bedroht und mit Raketen beschossen. Wir sind nicht von lauter Ländern umgeben, die sich nichts sehnlicher wünschen als Deutschlands Vernichtung. Genau das aber ist die Lage Israels. Schauen Sie sich eine Landkarte an – Israel ist von lauter Feinden umgeben. Das macht etwas mit dir, soviel ist mir klar.

Zeevs Prägung hat also einen so traurigen wie simplen Grund: Die Gründung des Staates Israel erfolgte, weil Juden über Jahrhunderte erfahren mussten, dass sie auf Dauer in keinem Land der Welt sicher waren. Deshalb gibt es Israel, auch als Zufluchtsort für Juden weltweit, die nicht in Israel leben. Für sie alle ist Israel das Synonym für "hier ist immer mein Ort, hier bin ich sicher". Deshalb verspricht der Staat Israel seinen Bürgern Schutz und Sicherheit. Und deshalb war der 7. Oktober für die Israelis ein solcher Schock, denn ihr Staat hatte sein Versprechen an sie nicht eingehalten. Wer trägt dafür die Verantwortung? Und wer übernimmt dafür die Verantwortung?

Gaby schreibt: "Einige hohe Funktionsträger in der Armee, in den Nachrichtendiensten und auch in der Regierung haben schon kurz nach dem 7. Oktober zugegeben, dass sie Verantwortung für das Versagen von Armee und Politik tragen. Aber nicht unser Regierungschef. Der schwieg auffällig lange, dann erging er sich in Siegesparolen. Zur Erinnerung: Netanyahu war Premierminister des Staates Israel von 1996-99, 2009-2021 und ist es wieder seit November 2022. Zum ersten Mal seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober fällt am 25. Oktober in seiner Rede an die Nation das Wort ‚Verantwortung‘. Man muss auf sich wirken lassen, was er gegen Ende seiner Ansprache sagt – hier meine Übersetzung: ‚Als Regierungschef bin ich verantwortlich für die zukünftige Sicherheit des Landes, und derzeit besteht meine Aufgabe darin, das Volk zu einem überwältigenden Sieg zu führen.‘ Zukünftige Sicherheit ??? Kein Kommentar von meiner Seite.

Von meiner Seite auch nicht, nur stummes Entsetzen. Das soll ‚Verantwortung‘ sein? Wie genau soll denn dieser überwältigende Sieg erreicht werden, und wie soll nach dem Sieg das Leben zwischen Israelis und Palästinensern weitergehen? Gaby ergänzt:

"Von seinem Parteifreund Miki Sohar, das ist unser Kultur- und Sportminister, war am Donnerstagnachmittag zu hören, dass ihm, also Sohar, klar sei, dass ‚Netanyahu, die gesamte Regierung und diejenigen, unter deren Aufsicht dies geschah‘, Verantwortung trügen. Auch dem Premier sei das klar.‘ Na, hoffentlich, kann ich da nur sagen. Dass diese Fragen erst nach dem Krieg untersucht werden können, ist klar. Aber wenn dem Premier die zukünftige Sicherheit am Herzen liegt, dann erwarte ich – wie auch die Mehrheit der Israelis – ein tragfähiges Verhandlungskonzept für die Koexistenz beider Völker nach dem Krieg."

Ich frage zurück: Sehen die Israelis denn in ‚Bibi‘ noch ihren Premierminister? Vertrauen sie ihm, glauben sie, dass er die Sicherheit des Landes wieder herstellen kann? Gaby antwortet: "Laut einer diese Woche in der "Times of Israel" veröffentlichten Umfrage haben nur noch 20,5 Prozent der jüdischen und acht Prozent der arabischen Israelis Vertrauen in die Regierung. Ich frage mich: Was – so viele? Wie kann das sein?"

Und dann kommt noch ein Familien-Bulletin: "Die Söhne sind gesund, Talja ist aus ihrer Schule in der Nähe von Haifa zurück, dort hat sie zwei Tage unterrichtet. Die Nachrichten aus dem Norden sind allerdings insgesamt wenig aufmunternd. Hatte ich schon geschrieben, dass es in Taljas ganzer Straße weder Schutzräume in Privathäusern noch öffentliche Schutzräume gibt?" (Jutta Hamberger und Gaby Goldberg) +++

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