Yehiel Yehoud (vorn), Vater der Geisel Dolev Yehoud, wird von Hagit Chen, Mutter der Geisel Itay Chen, bei einem Pressegespräch mit Angehörigen in der Botschaft Israels umarmt. - Foto: picture alliance/dpa | Christoph Soeder

TEL AVIV/FULDA Gespräche aus der Warzone 13

Vom Krieg zermürbt und traumatisiert

27.01.24 - Im Januar beginnt der Reigen einschlägiger Gedenktage und mit ihnen die Gefahr, den real existierenden Antisemitismus in Deutschland im sattsam bekannten "Nie wieder!" gipfeln zu lassen. Am 27. Januar begehen wir den Holocaust-Gedenktag. Bereits am 14. Januar gedachten Menschen in aller Welt der von der Hamas entführten Geiseln.

Eine fast zerschmetternde Hoffnungslosigkeit

Die Bilanz des Gaza-Kriegs ist erschütternd. 1.200 ermordete Israelis am 7. Oktober, 250 Verschleppte, von denen 136 noch immer von der Hamas gefangen gehalten werden. 200.000 israelische Binnenflüchtlinge mussten sich vor Angriffen im Norden (Hisbollah) und Süden (Hamas) in Sicherheit bringen. Der Gaza-Streifen sieht aus wie Deutschland im Mai 1945. 25.900 Tote und 64.000 Verletzte zählen die von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörden. Die Angaben sind nicht unabhängig überprüfbar und differenzieren auch nicht zwischen Zivilisten und Hamas-Kämpfern.

Nachhaltig traumatisiert

An jedem einzelnen Tag fliegen Raketen. Der deutsch-israelische Historiker und Publizist Meron Mendel erlebt sein Land unter Schock stehend und nachhaltig traumatisiert. Das gilt auch – vielleicht sogar besonders – für Menschen, die sich seit Jahren für Frieden engagieren und gegen Premierminister Netanjahu protestiert haben. Die Hamas hat am 7. Oktober zwar auch die Armee angegriffen, aber in erster Linie die Kibbuzim an der Grenze zum Gaza-Streifen – Kibbuzim, die bekanntermaßen Teil der Friedensbewegung sind. Unter den Ermordeten waren Ikonen der israelischen Friedensbewegung wie Vivian Silver. Vermutlich, so Meron Mendel, hat erst der 7. Oktober den Israelis klargemacht, dass die Hamas wirklich alle Juden in Israel ermorden will.

Wahrscheinlich hat fast jeder Israeli am 7. Oktober Freunde, Bekannte oder Familienmitglieder verloren. Von hier aus wirkt es oft so, als richte Israel den Blick nur auf das eigene Leid, als bleibe wenig Empathie für die Opfer auf der anderen Seite des Zauns. Gaby schreibt dazu:

"Das stimmt wohl für Teile der politischen Repräsentation. Außerdem haben sich in den vergangenen Tagen einige Aktivisten am Grenzübergang zum Gaza-Streifen eingefunden, um Hilfsgütertransporte zu stoppen. Andererseits gibt es viele Initiativen, die auch das Leid der Zivilbevölkerung im Gaza adressieren. Allerdings übersetzt sich diese Empathie nicht in Aufrufe zu einem Waffenstillstand. Dafür gibt es mehrere Gründe, die drei wichtigsten: Die Bilder der terroristischen Mordlust am 7. Oktober haben sich zu fest in die Erinnerung eingebrannt. Nr. 2: Das Wissen um die Kollaboration der Bevölkerung in Gaza bei der Entführung und Misshandlung der Geiseln. Und Nr. 3: Die Unmengen von Waffenfunden auch in Privathäusern im Gaza-Streifen und im Westjordanland. Alle Soldaten im Einsatz berichten über Stapel von Waffen, die an den unvorstellbarsten Plätzen versteckt sind. Es wirkt so, als gehöre es im Gaza zum guten Ton, Explosives in Kinderbetten zu lagern. Entschuldige meinen Zynismus, aber: Ultra-orthodoxe Juden umgeben ihre Babys im Kinderwagen mit Fotos von bedeutenden Rabbinern. In Gaza bettet man die Kleinsten auf die mit rotem Samt ausgeschlagene Geschenkkiste mit Waffenteilen."

Der Druck auf die Regierung wächst

Der innenpolitische Druck auf die israelische Regierung wächst. In Jerusalem haben Angehörige der Geiseln gegenüber Netanjahus Wohnhaus eine Zeltsiedlung auf einer der Hauptverkehrsadern aufgebaut. Sie wollen bleiben, bis die Verschleppten freigekommen sind. Wie sehr die Zeit drängt, verdeutlichen die jüngsten Aussagen von zwei im November befreiten Geiseln vor der Knesset. Die Frauen berichten von andauernder sexueller Gewalt und brutalen Misshandlungen. Gaby schreibt zur politischen Stimmung in Israel:

"Innerhalb der Regierung vertiefen sich die Gräben zwischen den Alt-Koalitionären – also Netanjahus ursprünglicher Rechtsregierung – und der früheren Oppositionspartei von Benni Gantz, die nach Kriegsbeginn der Notstandsregierung beigetreten war. In ihren Reihen wird die Kritik an Netanjahus Bulldozer-Politik lauter. Das politische Israel hat wieder mit der Selbstzerfleischung begonnen, die sehr an die Auseinandersetzungen um die Justizreform erinnert. Noch hält wenigstens die Zivilgesellschaft zusammen, noch kämpfen Soldaten aller politischen Überzeugungen nebeneinander für das gemeinsame Ziel: die Existenz des Staates zu sichern und seiner Bevölkerung ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen. Dass eine Lösung für eine israelisch-palästinensische Koexistenz gefunden werden muss, ist klar."

Woher kann eine Lösung kommen?

Wir sind uns in unseren Gesprächen einig: Die internationale Gemeinschaft müsste die Federführung übernehmen. Konstruktiv kann es nur werden, wenn die Europäer gemeinsam mit den USA und den gemäßigten arabischen Staaten an einer Lösung arbeiten, die die Existenz Israels garantiert und seine Sicherheitsbedürfnisse genauso berücksichtigt wie das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser. Gaby schreibt:

"Als Hindernis auf diesem Weg wird international vor allem unser Premier Netanjahu gesehen. Verständlich, aber es gibt eben auch diesen Aspekt: Die Hamas und vermutlich andere sehen ihre ‚Erfolge‘ vom 7. Oktober als realistisches Signal, Israel von der Landkarte zu tilgen. Das wird außerhalb Israels kaum wahrgenommen. Tote, Verletzte und Hungernde als Folge des Kriegs stören den Westen und Israel, aber nicht die Hamas. Das kann man dem entspannten Interview zwischen dem in Katar lebenden Führer der politischen Hamas, dem Billionär Khaled Mashaal, und einem kuweitischen Podcaster entnehmen."  (https://www.youtube.com/watch?v=ULjTL9IYwkQ)

Hass, Gewalt und Leid – wir werden uns noch lange damit auseinandersetzen müssen. Gaby schreibt: "Die israelische Armee geht von mindestens einem weiteren Jahr Krieg im Gaza-Streifen aus. Und dann ist da ja noch das Bedrohungspotenzial an der Grenze zum Libanon. Dort sind die israelischen Ortschaften durch den Dauerbeschuss der Hisbollah unbewohnbar, ihre Einwohner wurden weitestgehend evakuiert. Der Blick in die Zukunft: bedrohlich und trostlos."

Wie geht es der Familie?

Von Gabys drei Kindern leisten derzeit noch zwei Reservedienst. Das klingt so schön sachlich, aber was bedeutet das wirklich? Am Beispiel ihrer Familie ist gut zu sehen, wieviel dieser Krieg, wieviel der Angriff der Hamas auch im Alltag tatsächlich zerstört hat und zerstört. Gaby schreibt:

"David ist seit dem 7. Oktober im Reservedienst und hat jetzt endlich einen vorläufigen Demobilisierungstermin Anfang März erhalten. Wenn es dabei bleibt (und das ist keineswegs sicher), wird er 150 Tage Armeedienst geleistet haben, mit sporadischen und kurzen Familienbesuchen. In dieser Zeit wurde seine Tochter geboren, die ihren Vater nicht erkennt. Beruflich steht er durch den Krieg vor dem Nichts. Im vergangenen Jahr hatte er angefangen, sich in Israel als selbständiger Tour Guide zu etablieren und Touristengruppen zu führen. Aber der Krieg hat ihm die Lebensgrundlage entzogen – keine Touristen, keine Arbeit. Wenn er tatsächlich im März vom Reservedienst befreit wird, wird er versuchen, auf dem Bau unterzukommen, wo momentan händeringend Arbeitskräfte gesucht werden. Für seinen Bachelor in Geschichte und Geologie muss er noch eine letzte Arbeit abgeben. Die war im Januar fällig. Es ist absurd, dass er in seiner Situation um eine Terminverlängerung kämpfen muss!"

"Ori ist seit Ende Dezember demobilisiert. Auch im zivilen Leben arbeitet er als Paramedic und versucht nun, sich auf die Universitätseignungsprüfung vorzubereiten. In seinem Fall war die Armee so freundlich, ihm schon den nächsten Termin für den Reservedienst zukommen zu lassen – im späten Frühjahr steht die nächste Einberufung an. Es nimmt kein Ende."

"Auch Talja steckt in einer schwierigen Situation. Ihr für November/Dezember angesetzter Reservedienst in Eilat wurde bis Ende Februar ausgedehnt. Ihr Schulreferendariat ist also unterbrochen. Noch ist unklar, wie sich diese Unterbrechung auf die Anerkennung des Referendariats auswirken wird. Das Studienjahr an der Universität hat ohne sie begonnen. Sie versucht, nach ihren 10- bis 12-stündigen Arbeitstagen die Vorlesungsaufzeichnungen zu verfolgen. Bisher ist das nicht von übermäßigem Erfolg gekrönt. Die Universitäten versprechen Soldatinnen und Soldaten zwar Entgegenkommen, aber momentan wohl eher theoretisch."

Kein Happy End

Nach drei Monaten Krieg gibt es viele Gewissheiten – und noch viel mehr Fragen. Dass die Hamas ein Tunnelsystem angelegt hatte, war bekannt. Dass es in seinen Dimensionen größer ist als etwa das Berliner U-Bahn-Netz, nicht. Das erste Kriegsziel ‚Zerstörung der Hamas‘ kann nach Stand der Dinge durch den Krieg nicht erreicht werden, weil die Hamas längst ein militärisches Bündnis ist und nicht ‚nur‘ eine terroristische Organisation. Dem zweiten Kriegsziel, der Befreiung der Geiseln, ist Israel nicht viel nähergekommen. Dass die Hamas alle Juden unbarmherzig verfolgt, war bekannt. Wie insbesondere Mädchen und Frauen zu Opfern von bestialischen Quälereien, Folterungen und Vergewaltigungen wurden, ruft noch immer tiefes Entsetzen hervor. Die Welt hätte gern ein schnelles Ende des Kriegs, weil sie die Bilder nicht mehr erträgt. Israel aber hat eine ganz andere Sorge – es kämpft um sein Überleben. Ob es dafür immer die richtigen Mittel anwendet, kann und darf man hinterfragen. Ob seine jetzige Regierung geeignet ist, eine Lösung zu finden oder mitzutragen, noch viel mehr.

Das ist unser letztes Gespräch aus der Warzone – und nein, es hat kein Happy End. Gaby und ihr Mann Zeev erleben mit Traurigkeit, wie die Lebensgestaltung ihre drei Kinder beschnitten wird, wie sie, am Anfang ihres beruflichen Wegs stehend, nun ins Nichts blicken. Sie gehören zu einer weiteren traumatisierten Generation, die sich für das Überleben ihres Heimatslandes im Reservedienst Gefahren aussetzen muss – wie schon ihr Vater vor ihnen. Und an denselben Orten, an denen auch ihr Vater schon kämpfen musste. Uns beide treibt die Frage um: Wiederholt sich all das dann auch in der nächsten Generation, wird das auch die Zukunft ihrer kleinen Enkelin sein? (Jutta Hamberger und Gaby Goldberg)+++

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