Die Symbiose greift wieder: Fans fiebern mit der DFB-Elf - Fotos: Carina Jirsch/ON-Archiv

KOMMENTAR Einige Fragen bleiben

Fußball-EM: Deutsches Abschneiden, Fan-Nähe, alberner Video-Beweis

08.07.24 - Noch läuft sie, die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland. Der Titelträger wird zwischen Spanien, Frankreich, England und den Niederlanden ermittelt. Alles erwartbar. Seit Freitagabend ist die DFB-Elf nicht mehr unter den Bewerbern. Trauer machte sich breit, Tränen flossen. Im ganzen Land. Auch bei Bundestrainer Julian Nagelsmann. Mehr als unglücklich war das Ende nach dem 1:2 in der Verlängerung und dem Last-Minute-Aus im Viertelfinale gegen Spanien. Es bleiben einige Aspekte und Fragen. Zunächst die positiven.

Davon gibt es eine ganze Menge. Die Zurück-Eroberung der Herzen zum Beispiel. Die Symbiose zwischen der DFB-Elf und ihren Fans in ganz Deutschland sei wieder hergestellt, heißt es. Ja, es ist gelungen, diese Lücke wieder zu schließen. Von der Tristesse, die in Fußball-Deutschland im Frühjahr noch herrschte - hin zu einer Euphorie, die zwischendurch etwas erzwungen wirkte. Sich aber im ganzen Land breit machte. Von Maßnahmen des DFB und des Teams, schon in der Vorbereitung auf die EM wieder in die Herzen der Fans hineinzukommen - und Nähe zu erzeugen. Das kam an.

Walter Kell

Und die Mannschaft lebte diesen Effekt, indem sie mitunter begeisternden Fußball zeigte. Offensiv geprägt. Als Team den Weg in die Herzen der Anhänger fand - aber auch durch individuelle Substanz auf sich aufmerksam machte. Angefangen bei Schlüsselspieler Toni Kroos, dessen Rückhol-Aktion sicher der zündende Funke war. Seit Jahren schon war Kroos der mit großem Abstand beste deutsche Kicker - international gesehen. Darin steckt Klasse, wenn er einfache Bälle spielt, offensive Räume besetzt, vertikal spielt, diagonal - einfach dorthin, wenn er weiß, wo der Ball in welcher Situation auch hin muss. Fußball-Deutschland wird ihn vermissen.

Ein starkes DFB-Team - offensive Zwillinge Musiala und Wirtz

Auch andere brillierten. Jamal Musiala und Florian Wirtz in offensiven Halbräumen. Noch nicht mit der Konstanz; Musiala mehr, Wirtz weniger - beide aber nachhaltig. Auch der Stuttgarter Mittelstädt gefiel, auch Kapitän Gündogan, der in der Beurteilung vieler sogenannter Fans nicht angemessen wegkommt, Einwechsler Füllkrug oder der zentrale Angreifer Havertz. Es spricht für das Team, wenn niemand abfiel - ob Keeper Neuer, Kimmich, die Innenverteidiger Tah und Rüdiger, Linksverteidiger Raum, Sechser Andrich, Schlotterbeck, der vielleicht zu wenig Spielanteile bekam - oder all die, die auf der Bank ihren Anteil beitrugen.

Selbst Bundestrainer Nagelsmann schälte sich in seiner Außenwirkung. Kam er als Leipzig- oder Bayern-Trainer in der Bundesliga hier und da etwas spröde rüber - wirkte er jetzt nicht nur klar in seiner fußballerischen Linie und Vorstellung, er zeigt auch Emotionen. Und er rief Deutschland quasi dazu auf, das Wir-Gefühl wiederzuentdecken - und es zu leben. Das DFB-Team habe in sechs Wochen bewiesen, was dann möglich sei.

Eines sollte man nicht außer Acht lassen in seiner Bewertung. Was ist eigentlich passiert? Zwei Siege in der Vorbereitung - in Frankreich und Last Minute gegen die Niederlande. Und bei der EM? Ein "dankbarer" Auftakt gegen Schottland, ein (mühsames) 2:0 gegen Ungarn, ein 1:1 auf den letzten Drücker gegen die Schweiz in den Gruppenspielen, in der K.o-Runde 2:0 gegen Dänemark und 1:2 gegen Spanien - all dies sollte man wirklichkeitsnah einordnen. Nicht mehr und nicht weniger. Warum erinnere ich mich den Worten der ehemaligen Trainer-Größe Otto Rehhagel? "Wenn wir gewinnen, tragen sie dich auf Händen. Wenn nicht, stürzen sie dich ins Meer."

Eines aber bleibt fade zurück. Es ist nicht ausschließlich ein deutsches Problem - man wird aber den Eindruck nicht los, dass deutsche Anhänger besonders gern darauf reagieren: der Umgang mit VAR-Entscheidungen. Oder denen des Video-Beweises. Jeder weiß, dass es nach der spielbedingten Reaktion des Spaniers Cucurella, der Musialas Schuss regelwidrig abwehrte, Elfmeter hätte geben müssen - und dass dies den Ausgang des Spiels entscheidend beeinflusste.

Jeder weiß aber auch, dass Kroos nach früh berechtigter Gelber Karte den Platz zeitig hätte verlassen können - und dann? Jeder weiß auch, dass der Handelfmeter, den der Däne Andersen verursachte, wohl keiner war. Oder dass Delaneys Fußspitze als Abseitsstellung lächerlich ist. Und jeder weiß, dass Schlotterbecks frühes Kopfballtor hätte anerkannt werden müssen - nach Kimmichs eher alltäglichem Blocken eines dänischen Gegenspielers.

Solche Entscheidungen sind nicht nur fragwürdig. Sie sind irre. Sie nehmen dem Fußball die Glaubwürdigkeit - und sie machen ihn auf Dauer kaputt. Der Deutschen liebstes Kind zerbröselt. Nimmt ihm seine Faszination. Die Frage: Wer will das?

Und: Warum regt sich eigentlich jeder über diesen Mist noch auf? An jedem Wochenende kommt es in der Bundesliga zigfach vor, auch in der Premier League sorgt der Videobeweis für Ärger. Und wer installiert solche Beweise? Leute, die oft vom Fußball gar nicht diese Nähe oder Ahnung haben - ob auf UEFA- oder auf FIFA-Ebene. Dazu wird Geld für mehrere Schiedsrichter ausgegeben, die über solch strittige Entscheidungen wachen - und dann zur Verantwortung gezogen werden. Wäre dieses Geld an anderen Stellen nicht wesentlich besser eingesetzt? Was passiert hier eigentlich in unserer Gesellschaft? Auf unserer Welt? Wenn Personen über Wohl und Wehe, über Schicksal Anderer entscheiden, wo sie doch eigentlich gar nicht dazu befugt sein dürften.

Auch diese dumme und alberne Handspiel-Regel sollte endgültig ein Ende finden. Wie war unsere Fußball-Welt doch früher so schön - als es hieß "Absicht oder nicht?" Und gut war's. Die Schiedsrichter müssen einem schon leidtun, die nicht unbedingt Autorität, aber Respekt, Wertschätzung und Entscheidungsmöglichkeiten verlieren - und Schiedsrichter gehören nun mal zum Spiel.

Aber wir alle hoffen. In oder, besser gesagt auf Zeiten, in denen das Wünschen noch geholfen hat. (Walter Kell) +++

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