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In Bayreuth wurde in der vorigen Woche für über mehr als 3.000 Mitarbeiter des dortigen Klinikums die "Pendlerquarantäne" verhängt, denn im Krankenaus war eine weit ansteckendere Variante des Virus, die "britische" Mutante B1.1.7, aufgetaucht. - Foto: picture alliance/dpa | Nicolas Armer

REGION Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel

Erfolge in der Corona-Pandemie – und jetzt...: die Große Impf-Krise?

ZUR PERSON DR. THOMAS MENZELPriv.-Doz. Dr. med. Thomas P. Menzel (58) ist Facharzt für Innere Medizin mit den Schwerpunkten Gastroenterologie und Hämatologie/ internistische Onkologie sowie Zusatzqualifikationen als ärztlicher Qualitätsmanager und Diplom-Gesundheitsökonom. Seit Mai 2011 ist er Sprecher des Vorstands der Klinikum Fulda gAG.

01.02.21 - In dieser Pandemie gibt es keine absoluten Wahrheiten. Wir treffen Entscheidungen und finden Kompromisse auf Basis aktueller Erkenntnisse und nach Abwägen unterschiedlicher Interessen. "Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen", hat Jens Spahn, der Bundesgesundheitsminister im Frühjahr im Bundestag gesagt. Er hat Recht behalten, auch was sein eigenes Handeln angeht.

Und weiter geht’s: "Die Bundeskanzlerin und die Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz haben sich darauf verständigt, am 1. Februar um 14:00 Uhr zu einem Impfgespräch zusammenzukommen", meldeten die Nachrichtenagenturen. "Impfgespräch", der Begriff weckt Assoziationen. Wie die Einladung zum Elterngespräch, wenn die schulische Karriere des Kindes einen anderen Weg nimmt, als ihn sich die Eltern erhofft hatten. Geht es um das politische Schicksal von Jens Spahn, oder darum wie es mit dem Impfenweitergeht? Wahrscheinlich stehen beide Themen auf der Agenda. Der Ausgang des Gesprächs ist offen.

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Das Urteil der Deutschen fällt derweil gemischt aus. Nach einer aktuellen Umfrage im Auftrag der Bild-Zeitung bekommt die Regierung derzeit eher schlechte Noten (3,8),nur die EU (3,9) schneidet noch schlechter ab.

Der aktuelle ARD-Deutschlandtrend.

Uneingeschränkt erfreulich ist ein anderes Ergebnis: Laut ARD-Deutschlandtrend geben 54 Prozent an, sich auf jeden Fall gegen das Coronavirus impfen lassen zu wollen. Das sind 17 Prozentpunkte mehr als im November 2020. Weitere 21 Prozent sagen, dass sie sich wahrscheinlich impfen lassen werden. Ein gutes Drittel (36 Prozent) der Befragten bezeichnet das Tempo der begonnenen Corona-Impfungen als angemessen, aber jeder Zweite (52 Prozent) empfindet es als zu langsam. Nur wenigen (acht Prozent) geht es zu schnell.Bei der Beschaffung des Impfstoffes hatten die EU-Länder verabredet, dass nicht jedes Land für sich die Verhandlungen mit den Impfstoffherstellern führt, sondern alle Länder gemeinsam bestellen. Dieses Vorgehen halten 70 Prozent der Befragten – trotz der jüngsten Impfdebatte - für richtig, 26 Prozent halten es für falsch.

Das Jahr 2021 sollte in Europa eigentlich mit Bildern von auf Oberarme gerichteten ...

Das Jahr 2021 sollte in Europa eigentlich mit Bildern von auf Oberarme gerichteten Nadeln beginnen und nicht mit Fingern, die Schuldzuweisungen kommunizieren und Drohungen unterstreichen. Nun drohen Lieferschwierigkeiten den ohnehin schon nicht allzu ambitionierten Impfplan der EU erheblich zu verzögern. "snafu" – "situation normal: all fucked"- was übersetzt so viel  bedeutet wie "Operation gelungen, Patient tot" beschreibt aus Sicht des britischen Nachrichtenmagazins "The Economist" die Situation der Impfstoff-Produktion und -Verteilung in Europa am besten: Die Eurokraten schimpfen auf die Pharmaindustrie, die ihrerseits leutselig versichert, alles richtig gemacht und rechtzeitig auf die derzeitigen Lieferengpässe hingewiesen zu haben. Die ersten nationalen Politiker fordern bereits "mein Land zuerst." Tatsächlich sind erst zwei Prozent der Europäer geimpft in den USA und in Großbritannien sind es jeweils schon sieben Prozent.

Deutschland in der "Impf-Krise"


Damit ist klar:  Die Nachrichten zum Angebot an Impfstoff verdichteten sich zu einer veritablen "Impf-Krise". Biontech/Pfizer liefert weniger Impfstoff als vereinbart, allerdings aus gutem Grund, denn um die Kapazität der Fabrik in Belgien zu erhöhen, muss es die Produktion dort befristet zurückfahren. Vergebens warten wir noch auf einen Impfstoff des im Sommer gehypten Tübinger Herstellers Curevac. Im März wollte Donalds Trump die Firma noch kaufen, doch Investor Dietmar Hopp (SAP) legte sein Veto ein. Der Impfstoff soll nach heutigem Ermessen im zweiten Quartal 2021 zugelassen werden. Das Institut Pasteur und Merck haben ihre Impfstoff-Entwicklung sogar vorerst gestoppt.

Der Impfstoff von AstraZeneca enttäuscht alle Erwartungen. Foto: picture alliance / SvenSimon | Frank Hoermann/SVEN SIMON

Und AstraZeneca enttäuscht alle Erwartungen: Zunächst hieß es, das Unternehmen liefere weniger in die EU als zugesagt. Bis Ende März sollten nur 31 statt der vereinbarten 80 Millionen Dosen in der EU ankommen, indes die Lieferung nach Großbritannien ungekürzt weiterlaufe. Zunächst falsch interpretierte Zahlen der Wirksamkeit des Wirkstoffs von AstraZeneca in deutschen Zeitungen, die zwar von den Behörden richtig gestellt wurden, führten aber im Ergebnis zu dem Resultat, das in der Falschmeldung angedeutet worden war. Der Impfstoff wird wohl einstweilen nicht für die Älterenzugelassen. Das wiederum kann unseren Impfplan weiter durcheinanderbringen, denn der Impfstoff darf nun bei der Altersgruppe 65plus nicht eingesetzt werden.

Dass sich ein solches Szenario zu Beginn der Impfkampagne einstellt, ist allerdings alles andere als eine Überraschung. Denn, dass der Impfstoff noch knapper als begehrt sein würde, war vorherzusehen. Bekanntlich hat die Natur für uns Viren für alle im Programm, aber keine Impfstoffe. Diese müssen wir entwickeln und herstellen.

Aber diese Entwicklung ist ebenso wenig trivial wie die Herstellung des Präparats. Das zeigt das bisher vergebliche Warten auf Impfstoffe nach einem verheißungsvollen Anfang sowie der Rückzug namhafter Hersteller und Entwickler.

Unser Gastkommentator Priv.-Doz. Dr. med. Thomas Menzel. Foto: Hendrik Urbin

Der Vertrauensverlust ist groß. Insbesondere vom "Fall" AstraZeneca geht ein unmissverständliches Signal aus: Europa muss seine Rolle ernst nehmen. So richtig es war, im vorigen Jahr den Einkauf der Vakzinen in Europa gemeinschaftlich zu regeln und damit ein Zeichen gegen Nationalismus und Unilateralismus zu setzen, so unverzichtbar wird es von nun an sein, die gemeinschaftlichen Interessen auch erfolgreich und vertragssicher durchzusetzen. Ohne Interpretationsspielraum.

Es genügt nicht, moralisch Recht zu haben, wenn man keinen Impf-Stoff in der Spritze hat.

Doch es gibt auch Indizien des Erfolgs und diese sollten nicht verschwiegen werden: Der bisher erfolgreichste Impfstoffkommt aus Deutschland. Er wird bald auch in Marburg produziert, und Sanofi öffnet eine weitere Fertigungsstätte in Frankfurt-Hoechst für die Produktion des Impfstoffs von Biontech/Pfizer in Lizenz. Damit wird ein starkes Zeichen gesetzt und ein Maßstab für Kooperation in der Krise. Es ist das Kontrastprogramm zu dem Verhalten anderer, das die Politiker und die Bürger nicht übersehen werden. Ebenso wie das Ausbleiben von Lieferungen. Mit der Aufwertung von Hoechst gibt Sanofi einen Impuls für das "Impfgespräch": Seht her, so geht’s. Die Erwartungen sind hoch. Die Politiker sind gleichsam zum Erfolg verpflichtet, und es ist nicht ausgeschlossen, dass auch andere Hersteller Kooperationen eingehen.

Fulda ist am Erfolg beteiligt!


Etwa 2,5 Millionen Impfdosen sind in Deutschland schon verabreicht, darunter etwa vier Fünftel Erst- und ein Fünftel Zweit-Impfungen. Der Impfstoff von Biontech/Pfizer immunisiert nach aktueller Erkenntnis auch gegen die bisher bekannten Mutanten des Virus.

Der Impfstoff von Biontech/Pfizer immunisiert nach aktueller Erkenntnis auch gegen ...Foto: picture alliance/dpa | Andreas Arnold

Das Regionale Impfzentrum im Esperanto in Fulda.

Und nach wie vor stehen die Impfzentren bereit. An diesen Erfolg wollen wir ebenso erinnern, denn daran sind auch wir hier in Fulda beteiligt. Im Landkreis Fulda sind alle Alten- und Pflegeheime durch die mobilen Impfteams versorgt worden, 80 Prozent der dortigen Bewohner und 60 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind geimpft worden.

Und überhaupt: Auf der kommunalen Ebene in Deutschland hatten Städte und Kreise, Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte binnen weniger Tage bis zum 15. Dezember jene Zentren errichtet, in denen seither geimpft werden sollte. Lokal und regional haben wir es gut gemacht, gemeinsam handeln die Behörden, die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte und die Krankenhäuser konsequent, abwägend und verantwortungsbewusst. Wir alle tauschen uns aus und arbeiten gut zusammen. Wir treffen unsere Vorbereitungen mit Augenmaß, wir handeln nach dem Grundsatz der Vorsicht, und wir passen unser Handeln an den jeweils aktuellen und wissenschaftlich abgesicherten Wissensstand an.

Gute Zusammenarbeit in der Region


In der Corona-Krise: Das Klinikum Fulda ist eines von sieben koordinierendes Krankenhäusern ...

Dass dabei nicht immer alle Beteiligten einer Meinung sind, kann vorkommen. Weil das Klinikum Fulda als koordinierendes Krankenhaus für Osthessen von der Landesregierung mit einem Sonderkontingent an Impfstoffen versorgt wurde, das auf ausdrückliche Weisung seitens des Ministeriums nicht mit den anderen Krankenhäuser der Region geteilt werden durfte, gab es – verständlicherweise – erheblichen Unmut in  den anderen Kliniken der Region. Wir hatten uns erlaubt, die Landesregierung frühzeitig darauf hinzuweisen und zu bitten, dass auch den anderen Kliniken, die sich an der Behandlung von COVID-Patienten in ausgezeichneter Form beteiligen, Impfstoff zur Verfügung gestellt wird. Mittelweile sind fast überall die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der höchsten Prioritätsstufe geimpft, die mediale Aufbereitung des "Krachs" ist Geschichte. Die gute Zusammenarbeit zwischen den Krankenhäusern der Region hat dieser "Streit" ohnehin nicht nachhaltig tangiert. Aber es ist auch nochmals sehr deutlich geworden, was der eklatante Mangel an Impfstoff anrichten kann, in einer Gesellschaft, deren Nerven derzeit wirklich blank liegen.

Jetzt sollten endlich auch die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen zügig geimpft werden, denn sie spielen eine wichtige Rolle in der Bekämpfung der Pandemie.

Und an alle, die noch impf-skeptisch sind: Wir wollen niemanden zur Impfung überreden oder gar zwingen. Es ist okay – wenn auch vielleicht ein wenig egoistisch - erst mal abzuwarten, wie gut "die anderen" die Impfung vertragen. Aber am Ende wird auch für die Impf-Skeptiker nur die Impfung wieder in die Normalität führen. Es sei denn, sie erkranken selbst an COVID, mit allen bekannten (und auch den unbekannten) Risiken, was aus meiner ärztlichen Sicht die deutlich schlechtere Option ist.

Auf der hessischen und der nationalen Ebene sind wir erfolgreich. Wirklich. Gemeinsam senken wir die Zahl der Neuinfektionen, den R-Wert und mit der Zeit auch die Zahl der Menschen, die an oder mit COVID sterben. Die 7-Tages-Inzidenz ist an diesem Wochenende in Deutschland unter die Marke von 100 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen gefallen, die Anzahl der COVID-assoziierten Todesfälle, die ja immer etwas "nachläuft", auf unter 800.

Doch diese Erfolge sollten uns nicht zum Leichtsinn verleiten, die Restriktionen zu früh zu lockern. Wir haben schließlich erst im Oktober erlebt, wie sich die Zahl der Infizierten im Abstand von zwei Wochen mehr als verdoppelt hat. Ende September lagen wir bei 2.000 neuen Fällen am Tag, zwei Wochen später schon bei mehr als 4.000 und Ende Oktober schon bei 15.000. Erst heute, drei Monate später und nach Wochen der Restriktionen sowie einem Gipfelpunkt der Zahl der Neuinfektionen am Tag von etwa 33.000, sind wir dort, wo wir Ende Oktober waren.

Wir wollen ein Virus in all seinen Varianten bekämpfen!


Dr. Menzel: "Die Eindämmung der Seuche gelingt am besten im guten, transparenten ...

Die Kurve der Zahl der Neuinfektionen zeigt: Es ist leicht, das Virus zu verbreiten, doch umso schwerer, es wieder einzuhegen. Wir dürfen den leisen Erfolg, den wir uns in beinahe drei Monaten durch soziale Enthaltsamkeit verdient haben, jetzt nicht gefährden. Es liegen noch einige Wochen der Zurückhaltung vor uns, zumal die Mutanten des Virus bereit stehen, uns mit exponentieller Gewalt zu überrollen, wenn wir es nur zulassen. In Bayreuth wurde in der vorigen Woche für über mehr als 3.000 Mitarbeiter des dortigen Klinikums die "Pendlerquarantäne" verhängt, denn im Krankenaus war eine weit ansteckendere Variante des Virus, die "britische" Mutante B1.1.7, aufgetaucht. Die Mitarbeiter durften nur noch zwischen Arbeitsplatz und Schlafplatz pendeln, um die Gefahr einer Infektion weiterer Menschen zu reduzieren.

Angesichts dieser Aussichten ist es jetzt nicht an der Zeit, weitere Lockerungen zu fordern oder zu erwägen. Stattdessen ist es richtig, die potentielle Einreise des Virus möglichst zu beschränken. Dann aber bitte nur in konstruktiver Abstimmung mit den jeweiligen Ländern, die wir mit einer Restriktion belegen. Im Frühling vorigen Jahres haben wir mit Grenzschließungen ohne begleitende Kommunikation viel Vertrauen zerstört. Das darf nicht wieder passieren. Wir wollen ein Virus in all seinen Varianten bekämpfen und nicht die Menschen oder andere Staaten. Die Eindämmung der Seuche gelingt am besten im guten, transparenten Einvernehmen miteinander, wie uns die Ereignisse in den Tagen vor dem "Impfgespräch" vor Augen geführt haben. (Thomas P. Menzel) +++


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