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Familien sind extrem gefordert: Viele Eltern arbeiten im Homeoffice und betreuen nebenbei ihre Kinder. - Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Kira Hofmann

REGION Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel

Die gefühlte Corona-Lage: Langsam reicht’s!

ZUR PERSON DR. THOMAS MENZELPriv.-Doz. Dr. med. Thomas P. Menzel (58) ist Facharzt für Innere Medizin mit den Schwerpunkten Gastroenterologie und Hämatologie/ internistische Onkologie sowie Zusatzqualifikationen als ärztlicher Qualitätsmanager und Diplom-Gesundheitsökonom. Seit Mai 2011 ist er Sprecher des Vorstands der Klinikum Fulda gAG.

07.02.21 - COVID-19 ist in erster Linie ein medizinisches Problem. Die durch das SARS-CoV-2 hervorgerufene Erkrankung - eine Virusinfektion – befällt weltweit alle Menschen, die keine entsprechende Immunität aufweisen – und das sind bisher fast alle Menschen. Die Weltbevölkerung wird auf acht Milliarden Menschen geschätzt: Das sind acht Milliarden potenzielle "Gastgeber" für das Corona-Virus.
 
Und auch wenn es uns gelungen ist, in sehr kurzer Zeit mehrere potente Impfstoffe gegen das Virus zu entwickeln und in großem Maßstab zu produzieren; die Pandemie wird uns noch länger begleiten. Die Auswirkungen auf jeden einzelnen von uns sind ganz unterschiedlich, aber in jedem einzelnen Fall deutlich spürbar.

Lage in den Krankenhäusern

Unser Gastkommentator Priv.-Doz. Dr. med. Thomas Menzel. Foto: Hendrik Urbin

Viele der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Krankenhäusern haben deutlich mehr zu tun als sonst – aber auch nicht alle: In den Bereichen, in denen überwiegend geplante Eingriffe und Behandlungen stattfinden, ist weniger zu tun als sonst. Auf den Intensivstationen und COVID-Normalstationen dagegen ist die Anspannung mit den Händen greifbar. So auch in den Stäben und Abteilungen des Krankenhaus-Managements. Hier sind die Belastungen deutlich höher und die Arbeitstage erheblich länger als sonst.
 
Aber COVID-19 stellt nicht nur das Gesundheitssystem vor medizinische und organisatorische Herausforderungen, sondern insbesondere den einzelnen Betroffenen vor ein möglicherweise sehr ernstes gesundheitliches Problem. Und: die Corona-Pandemie stellt alle Menschen vor erhebliche Probleme in ihrem Alltag.

Lockdown

Viele Selbstständige leiden seit Wochen unter dem Lockdown.

Wir alle müssen damit zurechtkommen, dass Geschäfte geschlossen haben, Home-Office angesagt ist, Schulen und Kitas nicht im Regelbetrieb laufen, aber auch die Freuden im Alltag - wie Restaurants, Theater, Kino und Fußballstadien – verschlossen sind.
 
Hinzu kommt für viele die blanke Angst um die Existenz. Zum Beispiel wenn ein Selbständiger, der im Shutdown gezwungen ist, seine in 20 bis 30 Berufsjahren angesparten Reserven für die Altersvorsorge gegenwärtig zu verzehren, um seinen Betrieb weiter aufrecht zu erhalten. Ihm werden zudem die Zeit und die (sinkende) Leistungskraft in den (wenigen) kommenden Jahren fehlen, um die Lücke wieder durch Fleiß und Sparsamkeit zu schließen.
 
Und doch sind die meisten nur indirekt von den Auswirkungen der Pandemie betroffen.

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Für die meisten Menschen ist Corona selbst noch nicht als Bedrohung konkret geworden. Gut zwei Millionen von 83 Millionen Deutschen haben sich bisher nach der offiziellen Statistik mit dem Virus infiziert. Auch wenn die Dunkelziffer viel höher liegt – wir gehen davon aus, dass bis zu 10 Millionen Menschen in Deutschland bereits eine COVID-Erkrankung durchgemacht haben –, bleibt für mehr als 70 Millionen von uns COVID als Bedrohung für die eigene Unversehrtheit abstrakt.
 
Das kann schon mal dazu führen, dass die Existenz der Erkrankung insgesamt in Frage gestellt wird: Die Anzahl der Menschen, die das tun, wird auch nicht wirklich kleiner.

Alle leiden unter der Pandemie

Klar ist aber auch, dass alle 83 Millionen Menschen in Deutschland unter den durch die Pandemie verursachten Restriktionen leiden. Viele von ihnen empfinden die manifesten Einschränkungen und deren Folgen als belastender als die Krankheit und die Angst vor einer Ansteckung. Es ist wie die Bundeskanzlerin sagt "eine Zumutung". Und leider ist in den Augen vieler nicht das Virus Schuld an der ganzen Misere, sondern es sind die Politiker, die Virologen, die Epidemiologen und die vielen Experten-Berater, die sich all die Restriktionen ausdenken und einfordern und immer wieder die Apokalypse heraufbeschwören, wenn wir uns nicht an die Maßnahmen halten.
 
Unerfahren im Umgang mit Katastrophen einschließlich Naturkatastrophen - wie einer Pandemie - sind wir freilich alle. Und deshalb wollen die Forderungen nach einem Ende der Einschränkungen nicht verstummen, deshalb fordern viele einen Plan, eine klare Strategie und ein Datum, an dem wieder Normalität herrschen solle.
 
Nur leider können sich viele derer, die das fordern, gar nicht vorstellen, dass im Moment kein Mensch dieses Datum absehen und verkünden kann.
 
Aber wir alle müssen mit dem mehrfachen Dilemma umgehen: Mit der Bedrohung durch die objektiv bedrohliche, stark ansteckende Erkrankung, mit der Ungewissheit in den kommenden Monaten sowie mit den Restriktionen und ihren Folgen.

Große Herausforderg für Familien

Wir verlangen vielen Menschen vieles ab. Vor allem den Familien. Schon früh in der Krise haben wir – debattenfrei - auf die Familie als die Kernzelle der Gesellschaft zurückgegriffen und deren Funktionieren unterstellt, wenn zum Beispiel Schulen und Kitas schließen. Dann wird schon jemand zu Hause sein, der sich um die Kinder kümmert.
Die Mutter? Und die Großeltern? Und der Papa? Der oder die muss schließlich im Homeoffice arbeiten und nebenbei die Kinder betreuen. Aber kann das gut gehen? Arbeiten und gleichzeitig auf die Kinder aufpassen und das auf engstem Raum?
 
Mit den Kindern zusätzlich zum Homeoffice auch Homeschooling machen? Und wenn die Mama auch arbeitet? Und wenn die Großeltern als Helfer ausfallen, weil sie aufgrund ihres Alters zur Risikogruppe zählen? Und wenn es nur Mama oder nur Papa gibt?
 
In der Zeitschrift "Der Spiegel" berichteten im Frühjahr mehrere Alleinerziehende aus ihrem Alltag. Ein Vater mehrerer Kinder erzählte, dass er einmal, als es die Kinder nicht sahen, weinend vor einen Einkaufsladen trat, nachdem ihn andere Kunden angeraunzt hatten, warum er die Kinder zum Einkauf mit in den Laden bringe in der Corona-Zeit. Und seine Kinder haben gewiss auch gespürt, wie es Papa zumute war.
 
Ohnehin die Kinder. Sie sind Leidtragende der Pandemie – ohne sich artikulieren zu können. Sie gehen auf keine Demo, es sei denn, die Eltern nehmen sie mit, sie lösen keinen Shit-Storm aus, bedrängen ihren Abgeordneten nicht und drohen mit dem Entzug ihrer Stimme, die sie nach dem Wahlrecht ohnehin nicht haben.
 
Nach der COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, in der im Frühjahr 2020 mehr als 1.000 Kinder und Jugendliche sowie mehr als 1.500 Eltern Antworten auf Fragen zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit der Kinder gegeben haben, haben zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen in der Pandemie eine verminderte Lebensqualität und ein geringeres psychisches Wohlbefinden erlebt. In der Zeit vor Corona wurde für ein Drittel der Kinder von einer verminderten Lebensqualität und einem geringeren psychischen Wohlbefinden berichtet. "Das Risiko für psychische Auffälligkeiten sei von 18 Prozent auf 31 Prozent angestiegen. Hyperaktivität (24 Prozent), emotionale Probleme (21 Prozent) und Verhaltensprobleme (19 Prozent) traten vermehrt auf, ebenso psychosomatische Beschwerden wie Gereiztheit (54 Prozent), Einschlafprobleme (44 Prozent) sowie Kopf- und Bauchschmerzen (40 bzw. 31 Prozent).

Die COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf hat die Auswirkungen ...Grafik: COPSY-Studie

Lernen sei für zwei Drittel anstrengender geworden. Der Schulalltag wurde teilweise als extrem belastend empfunden. Auch in den Familien habe sich die Stimmung verschlechtert: 27 Prozent der Kinder und Jugendlichen und 37 Prozent der Eltern berichteten, dass sie sich häufiger streiten als vor der Corona-Krise. Vor allem Kinder, deren Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss oder einen Migrationshintergrund haben, erleben die Veränderungen als äußerst schwierig. Finanzielle Probleme, beengter Wohnraum und eine fehlende Tagestruktur seien Risikofaktoren, weshalb Unterstützungskonzepte für Familien eingefordert werden. Zu ähnlichen Befunden gelangte eine Befragung von 150 Kinderärzten, die vor allem vor den Spätfolgen und möglichen Entwicklungsverzögerungen warnten", schreibt Wilfried Schubarth in der Fachzeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" im Dezember 2020.
 

Die Belastung für die Mütter ist nochmal gestiegen Foto: Adobe Stock / Alliance

Hinzu kommt, dass vor allem die Belastung für die Mütter hoch ist. Nach einer Umfrage im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, die im Dezember 2020 veröffentlicht wurde, gaben 69 Prozent der Frauen an, dass sie die generelle Hausarbeit erledigen, während 11 Prozent der Männer dies von sich sagen. Auch um das Homeschooling kümmern sich vor allem die Frauen (mehr als die Hälfte), aber nur 13 bis 15 Prozent der Männer. Aber 66 Prozent der Männer glauben, dass die Arbeit unter den Geschlechtern gerecht aufgeteilt sei. Fast die Hälfte der Frauen fühlt sich laut Bertelsmann-Stiftung im Shutdown an ihre körperliche, psychische und emotionale Grenze gebracht. Unter den Männern räumen dies 30 Prozent ein, heißt es in einer Publikation der Stiftung.
 
Kitas, die Schule und die Arbeitswelt werden sich darauf einstellen müssen. Vor allem die Unternehmen werden kein Interesse daran haben können, Arbeit und Verantwortung an die Beschäftigten nach Hause abzugeben, wenn sie damit deren Überlastung und deren geminderte Einsatzfähigkeit im Beruf riskieren.
 
Es gibt auch kein Patentrezept, wie wir die Überlastung von Familien und Alleinerziehenden sowie die Existenzangst von Selbständigen, Unternehmern und Beschäftigten in Krisenbranchen mit einem mal werden auflösen können.
 
Aber wir müssen die Belastungen und Ängste in den Blick nehmen und anerkennen, auch um zu verstehen, warum bei vielen Menschen die Stimmung so gereizt ist, dass sie das Unmögliche fordern: Ein schnelles Ende der Pandemie.

Wir müssen uns in Geduld üben

Jetzt, wo der psychische Druck ohnehin hoch ist und weiter zunimmt, wird die Notwendigkeit, sich in Geduld zu üben, abermals steigen. Es gibt keine Aussicht auf ein festes Datum, zu dem der Shutdown aufgehoben und die Erkrankung enden wird. Wir wissen nur, dass wir nach drei Monaten von Kontaktbeschränkungen seit Mitte November 2020 etwa das Niveau an täglichen Neuinfektionen erreicht haben, wie wir es Ende Oktober 2020 hatten.
 

Das Virus mutiert und daher müssen die Mutationen nachgewiesen und verfolgt werden. ...Foto: picture alliance/dpa | Andreas Arnold

Es ist wie mit einer Diät. Die Erfolge werden hart erkämpft und sind schnell ruiniert. Zugleich macht das Virus, was alle Viren machen: Es mutiert fröhlich vor sich hin, wie es Forscher der Universität Jena jüngst gesagt haben. Seine Ansteckungsfähigkeit kann steigen oder sinken, ebenso seine Gefährlichkeit für den Wirt – also für den einzelnen Menschen. Und die ansteckendere Mutante wird, sofern sie nicht zu tödlich ist, binnen kurzer Zeit zur führenden Variante des Virus werden.
 
Einen Grund zur Entwarnung – und damit zur Aufhebung all der belastenden Einschränkungen in unser aller Alltag – haben wir genau deshalb nicht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir im ersten Quartal oder auch bis ins zweite Quartal und dann immer wieder einmal unter Einschränkungen werden leben und arbeiten müssen.
 

Impfstoff immernoch knapp

Aber irgendwann dürfte sich das Blatt wenden. Wir haben derzeit – überall auf der Welt – zu wenig Impfstoff, und wir können nicht mehr produzieren als wir derzeit leisten. Aber – soweit es derzeit absehbar ist – wird allein Deutschland in diesem Jahr 322 Millionen Impfdosen erhalten.
 
Damit können, weil die Impfstoffe meist zwei Mal verabreicht werden müssen, 161 Millionen Menschen geimpft werden. Da Kinder, Jugendliche und Schwangere bisher nicht geimpft werden, kann sich jeder Einwohner dieses Landes rechnerisch mehrfach impfen lassen.
 

19 Millionen Impfdosen sollen im ersten Quartal verimpft werden. Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Waltraud Grubitzsch

Die 19 Millionen Impfdosen, die wir im ersten Quartal, das an Ostern endet, verimpfen können werden, werden für viele einzelne von uns das ganz persönliche Ende der Pandemie bedeuten. Sie sind nach der Impfung auf der sicheren Seite, für sie ist die Pandemie vorbei. Das werden insbesondere Menschen sein, die 80 Jahre oder älter sind. Von den 23 Millionen Deutschen, die zwischen 40 und 60 Jahre alt sind, werden zu diesem Zeitpunkt nur sehr, sehr wenige geimpft sein. Wenn wir dann zu früh lockern, und die Ansteckungsraten wieder hoch schnellen, dann werden insbesondere aus dieser Altersgruppe einige Menschen sehr krank werden. Ja, die Wahrscheinlichkeit dafür ist geringer als in der Altersgruppe der über 80 Jährigen, aber selbst, wenn es nur fünf Prozent werden sollten, sind das immer noch fast eine Millionen Menschen – sprichwörtlich aus der Mitte der Gesellschaft. Hier liegt eine große Gefahr: Wenn wir zu früh nachlassen, wird das zu Lasten der Mittelalten gehen.
 
Und es bleibt dabei: Erst, wenn der Impfstoff hergestellt und geliefert ist, kann er auch verimpft werden. Durch wütendes Aufstampfen, Hysterie und die Leugnung wissenschaftlich-technischer Fakten, durch den Streit unter 80- und 95-Jährigen sowie Nierentransplantierten, wer den Impfstoff nun nötiger habe, wird es nicht schneller gehen. Hier ist ein wenig Gelassenheit angezeigt, auch wenn es schwerfällt.
 
Aber immer deutlicher verspüren wir eine wachsende Distanz zwischen der vernünftigen Sichtweise, der rationalen Betrachtung und Bewertung der Lage einerseits sowie der gefühlten Realität und der emotionalen Wahrnehmung andererseits.
 

Home-Schooling wird uns noch eine Zeitlang begleiten und die Eltern fordern. ...Foto: Adobe Stock / fizkes

Dabei ist völlig klar, gefühlt gilt: Langsam reicht es! Die Probleme bei der Versorgung mit dem Impfstoff, die Endlos-Diskussionen über die Lockerungen, das tägliche Klein-Klein der Maßnahmen, die häufig alles andere als nachvollziehbar sind, die nervigen Tage im Home-office und das Gerangel mit den Kindern um den Platz am PC. Mit den Zumutungen dieser Pandemie muss es bald ein Ende haben. (Thomas P. Menzel)+++


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