12.06.23 - Noah ist "brutto" 25 Jahre alt: ein freundlicher, kommunikativer und gutaussehender junger Mann, der viel Freude und positive Energie ausstrahlt. Beruf: Augenoptiker, Berufung: Model. Ihn umgibt im Gespräch mit OSTHESSEN|NEWS eine extrem angenehme Aura. Und dennoch hat die Geschichte seines Weges tieftraurige Kapitel, die beinahe im Abgrund ihr Ende gefunden hätten.
Noahs Familie gehört zu den Zeugen Jehovas - ein Umstand, der mit Homosexualität absolut nicht in Einklang zu bringen war. Er verlor erst seine Lebenslust, dann seine über alles geliebte Familie und ging aus der Alsfelder Heimat ins Rhein-Main-Gebiet. Hier begann im Sommer 2022 ein neues Leben, als Turbo wirkte zum Jahreswechsel die Teilnahme an der Fernseh-Realityserie "Mister Gay Germany". Der "Bergauf-Lebensweg" von Noah feiert also "netto" in diesen Wochen den ersten Geburtstag. O|N hat ihn seine Geschichte erzählen lassen.
Keine Schulpause ohne "Schwuchtel"
"Ich bin mit meiner Familie bei den Zeugen Jehovas (ZJ) in Alsfeld aufgewachsen, nur so hat meine Welt funktioniert. Man bewegt sich bei den Zeugen grundsätzlich in einer Bubble und hat möglichst wenig mit "Weltmenschen", also Außenstehenden, zu tun. Schon als kleiner Junge merkte ich beim Sport und beim Spielen, dass bei mir etwas "anders" ist. Ich konnte das aber lange gar nicht definieren. In der Schule wurde ich gemobbt, es verging keine Pause, in der nicht der Begriff "Schwuchtel" fiel. Meine Eltern meinten, ich solle mir da nichts einreden lassen. Bei den ZJ ist Homosexualität ein absolutes Tabuthema – es gibt nur Mann und Frau und dementsprechend wird nur Heterosexualität akzeptiert."
Der erste Kuss bringt die Gewissheit
"In der siebten Klasse ergab sich ein Facebook-Kontakt mit einem homosexuellen Mann. Nach einer Weile haben wir uns mal in einer Gasse in Alsfeld getroffen, es kam zu einem ersten Kuss. In diesem Moment habe ich sofort klar realisiert, wo ich hingehöre! Aber gleichzeitig stellte sich Panik ein: "Du kannst so nicht sein, hör auf damit! Die Familie wird enttäuscht sein, es ist ja ein No-Go für alle ZJ!" Ich führte also ein Versteckspiel mit einem Doppelleben. Knackpunkt war dann ein Umstand, als ich mich am Notebook meines drei Jahre älteren Bruders nach einem Facebook-Meeting nicht abgemeldet hatte. Er hat die Inhalte unseren Eltern gezeigt, es gab natürlich richtig Theater. Jahre später haben sie sich übrigens für ihre Reaktion entschuldigt. Damals versuchte ich zu beschwichtigen, es sei doch sicher nur eine Phase und ich habe es sogar mit einer Freundin probiert – aber das war absolut nichts für mich. Ich war entschlossen und habe es so auch meinen Eltern verkündet: "Dann bleib ich halt allein, das ist doch kein Problem für mich!" Ich habe mir LGBTQ-Filme angesehen und mich über die Freiheit der anderen gefreut. Abkoppeln von der Familie war für mich damals noch ein absolutes Tabu! Es war mir klar, dass es den Totalverlust von allem bedeuten würde, und die Familie stand bei mir doch über allem! Auch meine Mama war immer wie eine beste Freundin für mich!
Befreiung durch die Reaktion der Kollegen
Noah mit Kollegin Korina Teixeira Popp am Arbeitsplatz
Ich habe damals als Augenoptiker in Treysa gearbeitet. Wir waren als Belegschaft wie eine Familie. Ich weiß noch, wie ich dann in der Werkstatt stand und sagte: "Hier Leute, ich muss euch mal was mitteilen! Ich hab euch ja immer gesagt, dass ich nie heiraten werde. Das ist deshalb so, weil ich keine Frau heiraten kann!" Den Satz "Ich bin schwul" konnte ich nicht aussprechen."
Noah ist noch sichtlich bewegt von der empathischen Reaktion seiner Kolleginnen und Kollegen: "Alle haben gegrinst und mich mit den Worten umarmt "Endlich sagt er es!" Für sie war es vorher schon komplett klar." Dieser Moment hat für Noah eine zentrale Bedeutung: "Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, atmen zu können!"
Seine ehemalige Kollegin Selina Grösch zu O|N : "Ich erinnere mich noch genau an den Moment, wir haben uns über sein Vertrauen sehr gefreut. Noah ist ein ganz toller, feinfühliger und zuvorkommender Mensch und Kollege. Er denkt immer zuerst an die anderen und dann an sich!"
"Ich konnte so nicht mehr leben!"
Gegenüber den Eltern und den ZJ spielte Noah zunächst weiter "heile Welt". "Anfang 2021 habe ich Mama und Papa dann darüber informiert, dass ich das so nicht mehr aushalte. Jeder darf sich verlieben, nur mir wird das verboten?! Ich soll irgendwann mit 80 im Sessel sitzen und bis dahin nie so gewesen sein, wie ich wirklich bin? Mir war klar: wenn ich jetzt nicht gehe, hätte ich mir irgendwann das Leben genommen, ich konnte so nicht mehr! Mein bester Freund, meine beste Freundin und ich haben nur geweint und uns in den Armen gehalten."
Von einem "Gefängnis" ins nächste – und dann die Wende
Noahs Weg war nun für ihn klar. Im Juni 2021 wurde er von den ZJ ausgeschlossen. Es ergab sich die erste Beziehung zu einem Mann, verbunden mit einer Ernüchterung. "Es kam mir vor, wie aus einem Gefängnis heraus gleich ins nächste hineingekommen zu sein. Im Sommer 22, also nun vor einem Jahr, habe ich Schluss gemacht – und von da an ging es nur noch bergauf. Ich zog zu Hause aus und wohne seitdem in Frankfurt, die neue Arbeitsstelle, die Neusehland-Filiale befindet sich in der Innenstadt von Darmstadt. Ich bewarb mich bei dem TV-Format "Mister Gay Germany" und kam in die Serie hinein. Die Teilnahme hat mich bezüglich Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein ultra geprägt. Ich habe dadurch so viele Menschen kennengelernt, ich bin dadurch so gewachsen! Nach diesem total öffentlichen Outing habe ich unendlich viele Rückmeldungen erhalten: "Noah, du machst alles richtig!" Auch wenn es nicht ganz bis zum Titelgewinn reichte: für Noah war die Serie ein Meilenstein. "Ich habe mich dort auch richtig verliebt. Die Beziehung hat zwar leider nicht sehr lange gehalten, aber es ist immerhin eine richtige und dauerhafte Freundschaft dabei entstanden. Das ist doch auch klasse!" Auf Nachfrage bestätigt er lächelnd: "Ja, ich bin derzeit Single!"
Noah steht in der Heimat noch im Kontakt mit seiner Oma und mit seinem Bruder, der ebenfalls nicht mehr bei den ZJ ist. "Die Besuche in der Alsfelder Heimat tun aber auch ganz schön weh", sagt er.
"Ich würde mir wünschen, dass die Eltern anrufen und sagen "Noah, komm nach Hause"! Das wird aber nicht geschehen. Ich verurteile niemanden, ich könnte ihnen nie böse sein. Von meiner Seite bleibt die Brücke immer offen!"
Das Modeln wirkt so magisch auf ihn, dass für Noah klar ist: das ist viel mehr als nur ein Hobby: "Ja, das fühlt sich für mich absolut bereits an wie eine Berufung!". Um diese weiter voran zu bringen, sucht Noah nach einer seriösen Agentur. Wir wünschen ihm nicht nur dabei viel Erfolg! Er trägt sich übrigens mit dem Gedanken einer weiteren TV-Bewerbung: "Bei Germanys Next Top Model geht es bisher immer nur um das Casting von weiblichen Models inklusive Transgender. Warum nicht auch Gay-Models? Heidi hat es in einem Kommentar mal offengelassen, also warum nicht!?"
Sein Rat für andere: "Leb DEIN Leben!"
Noah weiß, dass sein Schicksal nicht das einzige dieser Art bei den Zeugen Jehovas ist. "Ich kenne dort viele Homosexuelle. Einer hat zu mir gesagt, er kann nicht weg - er möchte am liebsten morgen nicht mehr aufwachen. Ich kann ihm wie jedem anderen Menschen nur raten: "Leb dein eigenes Leben, auch wenn du erstmal alles verlierst! Nach jedem Regen kommt wieder die Sonne!"
Wie auch immer, ob bei GNTM oder woanders - wir werden Noahs Weg gerne weiter begleiten! (goa) +++
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