14.01.24 - Lord Peter Wimsey: "Sie war es nicht. Es klingt ja alles sehr überzeugend und wasserdicht, und trotzdem stimmt es nicht."
Chief Inspector Parker: "Das ist doch nicht Dein Ernst!"
Lord Peter Wimsey: "Doch."
Parker machte ein bestürztes Gesicht. Er vertraute Wimseys Urteil und fühlte sich, trotz seiner eigenen inneren Überzeugung, aus dem Lot gebracht. "Mein lieber Mann, dann sag mir mal, wo der Fehler stecken soll."
Lord Peter Wimsey: "Nirgends. Es ist alles hieb- und stichfest. Kein Fehler weit und breit – nur dass die Frau unschuldig ist."
Die Schuldige steht für fast alle fest
Cover „Starkes Gift“ © Wunderlich Verlag
Als 1930 der fünfte Band von Dorothy Sayers Serie um den adligen Hobby-Detektiv Lord Peter Wimsey erschien, war das ihr Durchbruch als Kriminalautorin. "Starkes Gift" ist ein klassisches Whodunnit mit der Hauptfigur des Gentleman Detective, das daneben mit einer ganzen Reihe skurriler Personen und Episoden aufwartet, die die Lösung des Falls fast zur Nebensache machen. Zumal in "Starkes Gift" die Leiche schon begraben ist, bevor der Fall beginnt und Lord Peter Wimsey der Liebe seines Lebens begegnet.
Die Ausgangssituation ist – eigentlich – klar: Die Krimischriftstellerin Harriet Vane ist des Mordes an ihrem Ex-Freund angeklagt. Ein Giftmord. Alles passt wie die Faust aufs Auge: Frauen morden gern mit Gift. Die Schriftstellerin kennt sich berufsbedingt mit Giftmorden aus. Sie hat überdies dazu recherchiert. Und sie war die Geliebte, nicht die Ehefrau des Opfers. Schändlich. Der Richter jedenfalls, der zu Beginn des Romans den Geschworenen seine Sicht der Dinge auseinandersetzt, hat eine klare Meinung: Schuldig – Tod durch den Strang. Und dann geschieht das Außergewöhnliche. Die Jury kann sich nicht auf ein einstimmiges Urteil einigen. So wird der Fall vertagt und soll vier Wochen später mit neuer Jury erneut aufgerollt werden.
Dorothy Sayers © akg-images/Wunderlich Verlag
Nach diesem Opening können wir uns als Leserinnen und Leser fragen: Hat der Richter recht, ist Harriet Vane wirklich eine Giftmörderin? Natürlich nicht, sagt uns unsere krimigeschulte innere Stimme – zumal wir auch wissen, es gibt vier Wimsey-Romane mit Harriet Vane. Aber wer war’s dann? Gut, dass Lord Peter übernimmt. Er nämlich ist felsenfest von der Unschuld Harriet Vanes überzeugt und will, dass sie ohne Makel und ohne Verdacht das Gerichtsgebäude verlässt. Denn er will diese Frau zu seiner Ehefrau machen. Sein gesellschaftlicher Stand ermöglicht ihm, Kontakte in alle möglichen Kreise zu knüpfen, Geldsorgen hat er auch nicht, er kann sich also ganz der Lösung des Falls widmen.
Ein Affront für die gute Gesellschaft
Harriet ist 29, als die Geschichte beginnt. Sie arbeitet seit sechs Jahren erfolgreich als Schriftstellerin, ist von niemandem abhängig und hat nie jemandes Hilfe beansprucht. Der Status als Geliebte war dennoch nicht das, was sie sich gewünscht hatte, war aber die Grundbedingung von Philipp Boyes, ihrem Geliebten. Der wollte sich nicht binden. Das bleibt für ihn sozial ohne Nebenwirkungen, nicht aber für Harriet Vane. Als er ihr nach einem Jahr Beziehung die Ehe wie einen Trostpreis anbietet, lehnt sie ab, und trennt sich von ihm. So zu leben galt damals als gesellschaftlicher Selbstmord, entsprechend klein ist Harriets Freundeskreis geworden.
Der alte Eingang zum Hauptgebäude von Old Bailey, heute wird er nur noch für zeremonielle ...© Wikipedia/Tbmurray CC BY 3.0
Wimsey fasziniert die innere Stärke, die diese Frau ausstrahlt. Zwar weiß sie nicht, wer der wirkliche Täter ist oder wie sie aus ihrer verzwickten Lage herausfinden könnte, aber sie gibt sich nicht auf. Deshalb fährt er alles und alle auf, was bei der Ermittlung helfen kann. Eine der schönsten und gleichzeitig auch komischsten Szenen ist sicher die Séance von Miss Climpson mit der Pflegerin von Philipp Boyds gebrechlicher Tante Mrs. Wrayburn, genauso die Ermittlungen von Wimseys perfektem Butler Bunter bei Anwalt Norman Urquharts Personal in der Küche oder Miss Murchinsons Schulung bei einem religiös gewordenen Ex-Knacki im Schlösser-aufbrechen.
Kein Happy Ending, aber großes Engagement
Am Ende ist der Mörder überführt, Harriet freigesprochen – aber Hochzeitsglocken läuten dennoch nicht. Es hätte auch nicht zu diesen beiden starken Charakteren gepasst, sich quasi in die Ehe zu flüchten. Dafür ist Liebe, ganz gewiss ihre Liebe, zu kompliziert.
Zentraler Verhandlungssaal im Old Bayley © Wikipedia
Beim Wiederlesen bin ich auch über Lord Peters Damen-Truppe gestolpert. Ein Büro, dem äußeren Anschein nach, de facto aber lauter Frauen, für deren Fähigkeiten die Gesellschaft offenbar keine Verwendung hat und die ihm in unterschiedlicher Weise bei den Ermittlungen unterstützen. Wimsey nennt sie liebevoll sein ‚Katzenhaus‘ und ist ansonsten sehr verschwiegen über dieses Unternehmen. "Es waren alte Fräuleins mit kleinem oder gar keinem Einkommen, Witwen ohne Anhang; von flatterhaften Ehemännern verlassene Frauen, die von winzigen Unterhaltszahlungen lebten und, bevor Miss Climpson sie anstellte, in ihrem Leben nichts hatten als Bridge und den Klatsch der Pensionen, in denen sie lebten."
Das ist ungewöhnlich, aber es zeigt auf, welche Umbrüche in der britischen Gesellschaft sich in diesen Zwischenkriegsjahren andeuten und ereignen werden. Wimsey gibt diesen Frauen eine Aufgabe und ermöglicht ihnen ein auskömmliches Leben. Und seine Schöpferin macht so nachdrücklich klar, was sie von der Benachteiligung von Frauen hielt. Tatsächlich kann man mit gutem Grund sagen, dass die eigentliche Hauptfigur von "Starkes Gift" Harriet Vane ist, eine moderne Frau, die in mancherlei Beziehung für Dorothy Sayers das Idealbild der Frau jener Zeit darstellt.
Lord Peter und seine Schöpferin
Die Grand Hall in Old Baileys © Wikipedia /Michael D Beckwith
1936 schrieb Dorothy Sayers in ihrem Artikel ‚How I came to invent the character of Lord Peter Wimsey‘, sie könne sich nicht erinnern, ihn erfunden zu haben, vielmehr habe sie daran gedacht, eine Kriminalgeschichte zu schreiben, "da sei er hereinspaziert mit seinen Gamaschen und habe sich für den Job beworben." In Lord Peter Wimseys Name steckt das englische Wort ‚whim‘ (= Laune, Schrulle), was in gewisser Weise seinen Charakter beschreibt. Nicht launisch im Sinn von launenhaft, aber spontan und immer bereit, das Unerwartete zu tun. Das befähigt ihn auch, Ungereimtheiten aufzuspüren, die andere – Polizei, Justiz – gern übersehen.
Hat man den Roman beendet, entsteht sofort unbändige Lust, einen weiteren Wimsey/Vane-Fall zu lesen – ein schöneres Kompliment kann man einem Roman eigentlich nicht machen. Dazu passt, dass der Wunderlich Verlag die Peter-Wimsey-Romane in einer sehr schönen Edition herausgebracht hat. Sehr angemessen für das Werk einer der drei großen britischen Ladies of Crime.
(Jutta Hamberger)+++
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