11.02.24 - Kutscher hat ein spannendes Krimi-Projekt begonnen: Er schreibt historische Krimis aus dem Jahrzehnt, in dem die Weimarer Republik zur NS-Terrorherrschaft wurde. Kann ein anständiger Mensch in einem zutiefst unanständigen System anständig bleiben? Dieser Frage spürt Kutscher nach. Und weil er Krimis schreibt, verschärft sich die Fragestellung: Wie gelingt all das, wenn der anständige Mensch Teil des Polizeiapparats ist, der mehr und mehr von der SS dominiert wird?
Blankgeputzte Kulisse für die Gäste aus dem Ausland
Cover von Olympia © Verlag
Volker Kutscher © Andreas Chudowski/Piper Verlag
Mit Kriegsbeginn 1939 wird die Reihe enden – ich stelle Ihnen hier den achten Band vor. Man kann die Bände unabhängig voneinander lesen, auch wenn es natürlich Bezüge und Querverbindungen gibt. Oh ja, und wer Lust hat, kann die Serie um Gereon Rath auch anschauen – die Serie "Babylon Berlin" basiert auf Kutschers Krimis.
Berlin im Sommer 1936 – die Nationalsozialisten haben eine perfekte Kulisse für die Gäste aus aller Welt geschaffen. Keine judenfeindlichen Plakate, keine Werbung des antisemitischen Hetzblatts "Der Stürmer", an den Kiosken gibt es wieder ausländische Zeitungen zu kaufen. Alles schön und aufgeräumt in diesem Deutschland. Modern, sauber, erfolgreich. Ein Vorzeigestaat. Alles ist hergerichtet – es ist nicht die erste und nicht die letzte Augenwischerei, mit der der NS-Staat die Welt einzulullen versucht.
Private Probleme
Charly, Gereon Raths Frau, ist ausgezogen und wohnt bei ihrer Freundin Greta. Die Idee ihres Mannes, für die Zeit der Spiele olympische Gäste in ihre Wohnung aufzunehmen, findet sie nämlich bescheuert. Man versteht sie nur zu gut, denn es ist ja klar, dass die Arbeit mit den Gästen an ihr hängen bleiben wird. Wenn man die Quengel-Familie Miller aus den USA dann kennenlernt, versteht man Charly noch viel besser!
Im Haus der Nationen gab es 38 Speisesäle, einen für jede Nation © Jutta Hamberger
Das Wohnhaus von Jesse Owens im Olympischen Dorf © Jutta Hamberger
Blick in das Zimmer von Jesse Owens Die Einrichtung ist spartanisch und weist auf die ...© drrcs15/Wikipedia
Adoptivsohn Friedrich "Fritze" Thormann wurde den Raths vom Jugendamt wegen "politischer Unzuverlässigkeit" weggenommen. Fritze ist bei der HJ und Ehrendienstführer im Olympischen Dorf. Stolz wie Bolle versieht er dort in seiner blütenweißen Uniform den Dienst. Fritze liest gern Erich Kästner (verboten in Nazi-Deutschland) und ist Fan von Jesse Owens (kein Arier). So wohl er sich in der Gemeinschaft der Hitlerjugend fühlt, so zuwider ist ihm seine neue Pflegefamilie Rademann, denn Vater Wilhelm verprügelt seine Söhne gern und, schlimmer noch, er ist pädophil. Die Szenen im Hause Rademann sind beklemmend, die Intrige, in die Fritze verwickelt wird, erschüttert einen zutiefst, die Liebe zu einem tschechischen Mädchen rührt einen an. Man kann Fritze mit gutem Recht als zweite Hauptfigur in diesem Roman bezeichnen.
Dieses Relief von Walther von Ruckteschell im Hindenburghaus zeigt marschierende ...© Jutta Hamberger
Im Hindenburghaus fand das abendliche Kulturprogramm statt – von Wochenschauen ...© A. Savin/Wikipedia
Im Haus der Nationen bedienten Mitarbeiter des Deutschen Lloyd in ihren auffälligen ...© Jutta Hamberger
Fritze wird dem amerikanischen Hochspringer Dave Albritton zugeordnet – einem Schwarzen, der mit Superstar Jesse Owens das Domizil im Olympiadorf teilt. Das ist schon deswegen eine spannende Zuordnung, weil sie Kutscher erlaubt, Rassismus auf mehreren Ebenen zu zeigen.
Jesse Owens bei seinem Olympiasieg im Weitsprung © Bundesarchiv 183-R96374
Bekanntlich waren Hitler und Konsorten ja davon überzeugt, einer überlegenen arischen Rasse anzugehören und damit meilenweit über allen anderen zu stehen – besonders Schwarzen. Dass die in ihrer Heimat USA Opfer von Rassismus sind, klingt immer wieder an. Auch, dass sie den Aufenthalt in Deutschland als schön und angenehm empfinden, denn für die Zeit der Spiele gilt: Keine Rassenpolitik. Sogar die Nazis applaudieren den schwarzen US-Sportlern bei ihren Siegen.
Ein ausgehöhlter Polizeiapparat
Nach drei Jahren NS-Herrschaft hat sich die Polizei verändert. Sie untersteht inzwischen dem Sicherheitsdienst SD, und damit der SS. Raths Kollege Reinhold Gräf ist zum strammen Nazi geworden und findet viel Freude dran, den ehemaligen Vorgesetzten zu schikanieren. SS-Obersturmbannführer Tornow erpresst Rath seit langem. Dass Rath im Olympiadorf ermitteln will, stört die Heile-Welt-Kulisse der Nazis.
136 Sportlerhäuser standen im Olympiadorf, fast alle eingeschossig wie diese hier ...© Jutta Hamberger
Im Haus Schneidemühl waren isländische Sportler untergebracht. Heute ist nur noch ...© Jutta Hamberger
Im Inneren des Speisesaals – im Roman wird hier der US-Sportfunktionär Morgan vergiftet ...© Jutta Hamberger
Was aber tun, wenn im Olympiadorf auf einmal ein ausländischer Sportfunktionär tot umkippt? Ein politischer Mord wäre störend, ein Unfall passt auch nicht, eine kommunistische Verschwörung ginge gerade noch so durch. Aber nicht mit Gereon Rath. Der will wissen, was passiert ist und ermittelt, auch wenn der Aufklärungswille seiner Vorgesetzten nicht gerade groß ist. Als weitere als Unfälle getarnte Morde passieren, wird Rath klar – das Ding ist eine Nummer zu groß für ihn. Dazu kommt, dass er und Charly die Flucht via Tschechoslowakei planen und selbst einige Geheimnisse zu viel haben.
Ein erpressbarer Held in Dunkel-Deutschland
Das Schwimmbad im Olympiadorf ist eines der am besten erhaltenen Gebäude im Olympiadorf ...© Jutta Hamberger
Man muss den Vorgängerroman "Marlowe" nicht unbedingt gelesen haben, um alle Details zu kennen, mit denen Tornow Rath erpresst. Die Linie ist klar: Da hat einer, der das Regime ablehnt, sich zu weit aus dem Fenster gelehnt und darüber gesprochen. Doof, dass das alles auf Tonbändern festgehalten ist. Wie Rath überhaupt oft unüberlegt agiert und damit sich und seine Lieben in Gefahr bringt. Gereon Rath und seiner Frau Charly möchte man beim Lesen immer wieder laut zurufen: Mensch, tu das nicht, halt einfach mal die Füße still! Aber nein, sein Starrsinn und ihre Naivität bringen beide immer wieder in brenzlige Situationen.
Kutscher erzählt das alles atmosphärisch dicht, immer wieder stockt einem beim Lesen der Atem. Es gelingt ihm, uns eine Ahnung davon zu geben, wie es sich anfühlt, in einer Diktatur zu leben. Er verbindet dabei historische Ereignisse mit Fiktivem. Deshalb verzeiht man ihm auch manche gut gemeinte Überzeichnung, etwa die, dass Charlie bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele als einzige im Stadion beim Horst-Wessel-Lied sitzen bleibt. Nice, aber ziemlich unrealistisch.
"Olympia" hat einen hochgradig verwickelten und vielschichtigen Plot, der einen in Bann zieht, gerade weil er die von hübschen Kulissen verdeckte Bedrohlichkeit in ihrer Doppelbödigkeit so grandios inszeniert. Nein, dieses Deutschland ist kein Platz für Leute wie Gereon, Charlie und Fritze. Nur – wohin können sie noch gehen? Einen Folgeband ("Transatlantik") gibt es bereits, einer soll noch kommen – man kann gespannt sein, wie Volker Kutscher seine meisterliche Story zu Ende bringen wird.+++
Foto: Nicole Dietzel, Dinias
(Jutta Hamberger)
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