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Reiner Engelmann, Der Fotograf von Auschwitz - "Uns der Geschichte stellen"
22.01.23 - Am 27. Januar jährt sich der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 78. Mal. Am 31. August 1940 trifft dort der junge Pole Wilhelm Brasse mit einem Häftlingstransport ein. Von jetzt an ist er namenlos, er ist Häftling Nummer 3444.
Es ist nicht einfach, über Auschwitz zu reden
Das Buch, das ich Ihnen heute vorstelle, entstand aus mehreren Interviews Engelmanns mit Wilhelm Brasse kurz vor dessen Tod 2012. Fast 60 Jahre hatte Brasse über seine Erlebnisse in Auschwitz geschwiegen. Einleiten möchte ich mit einem Zitat aus dem Vorwort – es stammt von Max Mannheimer, einem Überlebenden der Schoah – der in Theresienstadt, Auschwitz und Dachau inhaftiert war.
"Es ist nicht einfach, über Auschwitz zu reden. Dieser Ort symbolisiert und materialisiert all das, was an Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Zeit der Nazidiktatur millionenfach verübt wurde. (…)
Wer waren die Täter?
Waren es Menschen, waren es zivilisierte Menschen?
Hatten sie ein Gewissen?
Waren sie Mitglieder jenes Kulturkreises der Dichter und Denker, dem auch Goethe und Schiller entstammten?
Hätten sie sich Befehlen widersetzen können?
Wo lebten die Täter danach, als es vorbei war?
Lebten sie mitten in der Gesellschaft? Mitten unter uns?
Würde man ihnen begegnen? Sie wiedererkennen?
Oder standen sie alle nachweislich vor Gericht? Wurden sie verurteilt?
Welche Strafen hatte man ihnen zugedacht für das Unaussprechliche und doch Geschehene?
Fragen, die immer wieder neu gestellt werden müssen."
Arbeit im Erkennungsdienst
Wilhelm Brasse wurde im Februar 1941 dem Erkennungsdienst zugeteilt, dessen Chef SS-Oberscharführer Bernhard Walter war. Von nun an fotografierte er Häftlinge. Jeder Gefangene wurde im Profil, frontal und im Halbprofil abgelichtet, dafür brauchte Brasse drei bis vier Minuten. "Die Kamera schaffte keine Distanz zwischen ihm und den Häftlingen, die er fotografieren musste. Sobald er durch den Sucher schaute, sah er ihre verstörten Blicke und die ängstlichen Gesichter. Und alle, alle mussten sie zu ihm kommen, hundert und mehr am Tag, sieben Tage die Woche. Er kannte ihre Angst, er kannte ihre Verzweiflung, er wusste, was sie Tag für Tag durchmachten, und er wusste, die die meisten, die zu ihm kamen, nicht mehr lange leben würden."
Etwa ab der Mitte des Jahres 1941 wurden keine Juden mehr fotografiert, denn die starben ja sowieso, wie ihm sein Vorgesetzter Ernst Hofmann erklärte. Fortan wurden nur noch polnische Häftlinge fotografiert, bis Hofmann Ende 1943 befahl, auch das einzustellen, es sei zu schade um das Fotomaterial. Danach wurden nur noch Deutsche, Slowaken und Slowenen fotografiert.
Czeslawa Koka und Rudolf Friemel
Immer wieder traf Brasse bei seiner Arbeit auf Menschen, die ihn besonders berührten. Zu ihnen gehörte Czeslawa Koka, die am 13. Dezember 1942 eingeliefert wurde. Sie verstand kein Wort Deutsch, auch nicht die Anweisungen der Aufseherin. Die schlug ihr deshalb mit einem Stock ins Gesicht. Bevor Brasse sie fotografierte, ließ er sie Tränen und Blut abwischen, denn auf den Fotos durften laut Anweisungen der SS keine Spuren von Misshandlung zu sehen sein. Am 12. März 1943 wurde Czeslawa ermordet.
Rudolf Friemel war ein aus Wien stammender Widerstandskämpfer. Im Januar 1942 wurde er nach Auschwitz deportiert. Dort wurde er ein sogenannter Funktionshäftling und arbeitete in der Fahrbereitschaft. Im Lager schloss Friemel sich sofort dem Widerstand an. Er wollte unbedingt seine Geliebte, Margarita Ferrer heiraten und tatsächlich bewilligte Himmler ihm eine Heiratsgenehmigung für Auschwitz. Als Termin wurde der 18. März 1944 festgelegt. Zur Hochzeit reisten die Familien der Beiden aus Wien an, Brasse machte die Hochzeitsfotos. Am 27. Oktober 1944 bereiteten einige Häftlinge die Flucht aus Auschwitz vor, darunter auch Friemel. Sie zogen einen SS-Mann ins Vertrauen, der sie aber denunzierte. Friemel und die anderen Häftlinge wurden am 30. Dezember 1944 auf dem Appellplatz gehängt.
Fotos für die Lagerärzte
Eines Tages wurde Brasse von Dr. Josef Mengele angewiesen, von 15 jüdischen Mädchen Fotos zu machen. Die Mädchen mussten sich dafür ausziehen. "Mädchen, junge Frauen, die unter normalen Bedingungen auf Frisur, Kleidung und Haare achten würden. Kopf- und Schamhaare hatte man ihnen abrasiert und sie mussten sich so, abgemagert und ausgemergelt, nackt vor der Kamera aufstellen." Nach den Fotos wurden sie gemessen und gewogen, ihr Aussehen beschrieben – dann wurden sie in den Gaskammern ermordet. Mengele schickte nicht nur junge Mädchen, sondern auch Kleinwüchsige, Zwillinge und Häftlinge aus dem sogenannten Zigeunerlager – bei diesen musste Brasse detaillierte Fotos der Wunden machen, die der Wasserkrebs (Noma) bei den Häftlingen hinterlassen hatte.
Nicht nur Mengele, auch Eduard Wirths ließ Häftlinge von Brasse fotografieren. Sein ‚Spezialgebiet‘ waren Frauen mit unterschiedlichen Augenfarben. Wirths ‚operierte‘ auch, vorzugsweise entnahm er Frauen die Gebärmutter und ließ das von Brasse dokumentieren. Nach dem Eingriff wurden alle Frauen ermordet. Dr. Carl Clauberg beschäftigte sich mit der Sterilisation von Frauen. Für die SS war seine Arbeit interessant, da arbeitsfähige Juden benötigt wurden und Claubergs Arbeit zur "Erhaltung des Arbeitsmaterials" beitrug. Clauberg spritzte den Frauen eine ätzende Flüssigkeit in die Gebärmutter, was zu entsetzlichen Schmerzen führte – für die meisten Frauen dürfte der Tod eine Erlösung gewesen sein.
Dr. Johann Paul Kremer widmete sich der ‚Hungerforschung‘ und erhoffte sich in Auschwitz "lebendfrisches Material". Dafür wurden Häftlinge gezielt vorbereitet, ihnen wurde jegliche Nahrung entzogen, bis sie nur noch Haut und Knochen waren. Waren sie tot, sezierte Kremer sie. Brasse musste auch diese Häftlinge vorher fotografieren.
Die Russen vor dem Tor
Am 15. Januar 1945 befahl Bernhard Walter Brasse, alle Fotos und Negative zu vernichten, "der Iwan komme". Brasse aber entschied sich, die Bilder nicht zu zerstören, denn sie waren eine Dokumentation des Grauens von Auschwitz. Die Menschen auf den Fotos gab es nicht mehr, die Bilder waren alles, was von ihnen geblieben war. Am 21. Januar musste Brasse mit vielen anderen Häftlingen auf einen der Todesmärsche gehen. Das Ziel ist Mauthausen.
Nach der Befreiung Mauthausens durch die Briten geht Brasse nach Polen zurück – mit 28 Jahren beginnt sein zweites Leben. Seinen Beruf als Fotograf gab Brasse nur ein Jahr nach Kriegsende auf. Die Erinnerung an die Tausenden von Menschen, die er fotografiert hatte und die danach nur noch kurz zu leben hatten, war zu übermächtig. "Todgeweihte Menschen. Er konnte sie nicht retten. Er fühlte sich hilflos. Er fühlte sich machtlos." Sein ehemaliger Vorgesetzter Bernhard Walter fühlte keinerlei Skrupel und arbeitete nach dem Krieg als Filmvorführer in seiner Heimatstadt Fürth. Im Frankfurter Auschwitzprozess 1964/65 erkannte er seine Schuld nie an.
Weiterführende Links
Gespräch mit Wilhelm Brasse im Projekt Zeitzeugenpatenschaft https://www.youtube.com/watch?v=Bz6WCSlD9Jc
Lesung mit Wilhelm Brasse und Reiner Engelmann https://www.youtube.com/watch?v=o8OdTiPv-ss
Der Fotograf der Toten – Artikel im SPIEGEL über Wilhelm Brasse. Hier finden Sie auch weitere Fotos Brasses von Häftlingen und Tätern in Auschwitz https://www.spiegel.de/fotostrecke/fotograf-von-auschwitz-wilhelm-brasse-fotostrecke-122598.html
Die brasilianische Künstlerin Marina Amaral, die aus der Kolorierung historischer Schwarz-weiß-Aufnahmen ihren Beruf gemacht hat, hat Brasses Fotos eingefärbt. Sie will damit die Erinnerung an die Holocaust-Opfer wachhalten. "Wenn wir alte schwarzweiße Fotos sehen, dann bekommen wir das Gefühl, dass das, was abgebildet ist, nur in Geschichtsbüchern stattgefunden hat. Durch die Restaurierung der Farben erwachen die Bilder zum Leben."
https://www.watson.ch/wissen/history/221880252-kuenstlerin-koloriert-portraet-eines-maedchens-das-in-auschwitz-umkam
In der ZDF-Mediathek finden Sie den Film "Ein Tag in Auschwitz", eine Dokumentation über das sogenannte Auschwitz-Album, in dem die Ankunft eines Transports ungarischer Juden 1944 dokumentiert wird. Sie zeigen die Ankunft der jüdischen Opfer in vollgepackten Viehwaggons, die "Selektion" auf der Rampe, den Raub ihres Eigentums und die Verwandlung all derer, die nicht gleich getötet wurden, in kahl rasierte, uniformierte Arbeitssklaven. Viele Fotos stammen von Bernhard Walter, das Album selbst musste das Fotografen-Team, zu dem auch Wilhelm Brasse gehörte, anlegen. https://www.zdf.de/dokumentation/dokumentation-sonstige/ein-tag-in-auschwitz-108.html
(Jutta Hamberger)+++