30.06.24 - "Die Weltmeisterschaft von 1974 spielte keine Rolle für die Stärkung des deutschen Nationalgefühls", zitiert Roland Reng gegen Ende seines Buchs den Historiker Kay Schiller. Das ist bemerkenswert, weil es bei anderen WM-Titeln ganz anders war. Der Sieg 1954 gilt als eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik. Der Sieg 1990 war das erste gesamtdeutsches Fest nach der Wiedervereinigung. Und nein, Reng hat kein Fußballbuch geschrieben, sondern ein deutsch-deutsches Deutschlandbuch.
Zeitreise durch die 70er Jahre
Autor Jürgen Reng © Piper Verlag/Peter von Felbert
Die frühen 70er Jahre in der Bundesrepublik waren in jeder Hinsicht bewegte Jahre. Die Teilung in zwei deutsche Staaten war Normalität geworden. Der Terror der RAF fordert die junge Bundesrepublik heraus. Die Nach-68er räumen nicht nur mit dem Mief unter den Talaren, sondern auch mit der nicht aufgearbeiteten faschistischen Vergangenheit ihrer Eltern auf. Willy Brandt will mehr Demokratie wagen und schließt die Ostverträge. Im Kanzleramt wird Günter Guillaume als Spion enttarnt. Plenzdorfs "Die Leiden des jungen W." werden zum Mega-Erfolg. Deutschlands beste Satire-Zeitschrift heißt "Pardon" (mit Autoren wie Eckard Henscheid, Alice Schwarzer und Robert Gernhardt).
Volljährig ist man 1974 schon mit 18 Jahren. ABBA gewinnt mit "Waterloo" den Grandprix d’Eurovision. Es gibt zwei Fernsehsender (und die Dritten). "Klimbim" ist ein Renner im Fernsehen, "Der Pate 2" im Kino. Stephen King’s "Carrie" und "Der Weiße Hai" sind Bestseller im Buchhandel. In Wolfsburg beginnt die Serienproduktion des VW Golf. Und natürlich ist es das Jahr der Fußball-WM im eigenen Land.
Cover 1974 © Piper Verlag
Günter Netzer bei einer Autogrammstunde 1975 © Wikipedia / Friedrich Magnussen, ...Wikipedia / Friedrich Magnussen, Stadtarchiv Kiel CC BY-SA 3.0 de
Günter Netzer 1979 © Wikipedia / Friedrich Magnussen, Stadtarchiv Kiel CC BY-SA 3.0 de
Im Kader stehen Männer, deren Namen auch 50 Jahre später noch Wohlklang verbreiten. Einmal der starke Bayern-Block mit Sepp Maier, Franz Beckenbauer, Georg "Katsche" Schwarzenbeck, Paul Breitner, Uli Hoeneß und Gert Müller. Von Borussia Mönchengladbach kamen Jupp Heynckes, Rainer Bonhoff und Berti Vogts. Und dann natürlich Günter Netzer (Real Madrid) sowie Bernd Hölzenbein und Jürgen Grabowski von der Eintracht Frankfurt.
Dass WM im eigenen Land war, konnte man glatt übersehen. Ronald Reng weist uns mit höflicher Beharrlichkeit daraufhin, was es alles vor 50 Jahren nicht gab. Es gab keine Fahnenmeere, Fanmeilen oder Autokorsos. Fußball schaute man bei sich zuhause, nicht in der Kneipe oder mit Freunden zusammen. Es gab keine Übertragungen ganzer Fußballpartien. Zwar war man inzwischen mit Fernsehern gut ausgestattet, aber die Bundesliga-Berichterstattung beschränkte sich auf ausgewählte Fußballspiele, die in Ausschnitten im Aktuellen Sportstudio oder in der Sportschau gezeigt wurden. Die FAZ, damals die angesehenste deutsche Zeitung, entschuldigt sich für ihre ausführliche WM-Berichterstattung: "Der Entschluss, dem großen Sportfest in dieser Zeitung so viel Raum zu geben, ist uns nicht leichtgefallen". Fußballspieler waren noch keine Millionäre und Preisgelder vergleichsweise bescheiden. Bei Pressekonferenzen sprach nur der Trainer, niemand wollte etwas von den Spielern wissen.
Großartige Parallel-Erzählung
Bernd Hölzenbein © Wikipedia / Suyk, Koen / Anefo - Nationaal Archief, Den Haag
Finale WM 1974 © Wikipedia / Bert Verhoeff / Anefo
Jürgen Sparwasser © Wikipedia / Von Bundesarchiv, Bild 183-N0531-0322 / Mittelstädt, Rainer / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de
"Dass ein Fußballspiel als zeitgeschichtliche Klammer für diese Epoche taugt, wäre Historikern in jenen Siebziger Jahren wohl frevelhaft erschienen. Denn damals war ein Fußballspiel meistens einfach ein Fußballspiel. Der Sport hatte seine Anhänger, aber auch seine entschiedenen Gegner, so dass sich kaum von einem Ereignis für die gesamte Gesellschaft sprechen lässt", so Ronald Reng.
Als zeitgeschichtliche Klammer ist dieses Buch über eine 90minütige Fußballpartie der WM von 1974 einfach klasse. Es geht um die einzige Begegnung zwischen Deutschland und der DDR im Fußball, die – wider Erwarten – von der DDR mit 1:0 gewonnen wurde. Das war damals ein Schock, vielleicht aber die Voraussetzung für den späteren Titelgewinn der deutschen Mannschaft.
Matthias Brandt © Wikipedia / Stefan Brending, Lizenz: Creative Commons by-sa-3.0 de, CC BY-SA 3.0 de
Brandt mit Günter Guillaume in Düsseldorf © Wikipedia / Pelz, CC BY-SA 3.0
Guillaume mit Brandt auf einer Wahlkampfreise in Niedersachsen 1974 © Wikipedia / Bundesarchiv, B 145 Bild-F042453-0011 / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de
Reng erzählt nicht nur die Geschichte dieses Spiels, der Spieler, Trainer und Journalisten, die darüber berichteten, sondern lässt auch viele Zeitzeugen aus Ost und West zu Wort kommen, darunter
· Roland Jahn, der in der DDR als Staatsfeind galt und 1983 zwangsausgebürgert wurde. Nach der Wende war der Journalist und Bürgerrechtler Leiter der Stasiunterlagenbehörde BStU.
· Jutta Wachowiak, der ersten Darstellerin der Charlotte in Plenzdorfs "Neuen Leiden des jungen W.". Die Schauspielerin konnte nach der Wiedervereinigung nahtlos an ihre Erfolge im Osten anknüpfen.
· Doris Gerckes Familie floh 1949 aus Greifswald nach Hamburg, wo sie als Erwachsene das Begabten-Abitur machte. Sie trat der DKP bei und sollte deshalb 1974 die von der DDR handverlesenen "Touristen" während der WM begleiten. Später wurde sie Juristin und Kriminalautorin (Bella Block).
Bronzetafel am Denkmal des Kniefalls auf dem Willy-Brandt-Platz in Warschau ...© Wikipedia / Szczebrzeszynski
BRD gegen DDR 1974 in Hamburg – Beckenbauer, Vogts und Martin Hoffmann ...© Wikipedia / Bundesarchiv, Bild 183-N0622-0035 / Mittelstädt, Rainer / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de
Jürgen Sparwasser © Wikipedia / Bundesarchiv, Bild 183-P1017-0317 / Mittelstädt, Rainer / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de
· Willy Brandts Sohn Matthias war als 12-Jähriger fußball- und vor allem Günter-Netzer-begeistert. Er vertrat seinen Vater im Aktuellen Sportstudio beim Schuss auf die Torwand und traf genauso oft wie der von ihm bewunderte Netzer. Später spielte er im Film "Schatten der Macht" den Kanzlerreferenten und Spion Günter Guillaume.
· Klaus Jünschke, ehemaliges Mitglied der RAF, sitzt 1974 in der JVA Zweibrücken in Haft. Er ist kein Fußballfan, und doch Thema bei dieser deutsch-deutschen Partie. Denn in einem Gespräch mit seiner Verlobten hatte er geäußert, dass während der WM von den Raketen noch kein Gebrauch gemacht worden sei.
· André Krüger, der schon als Jugendlicher Fan der australischen Nationalmannschaft ist und alles über sie sammelt. Heute ist er dort als "The Crazy German" und größter Fan der Socceroos bekannt – und alles begann mit seiner Dokumentation der australischen Fußballgeschichte. Natürlich wird er zu den Treffen der 1974er-Mannschaft regelmäßig eingeladen.
. Und Günter Netzer, einer der überragenden Fußballer jener Jahre, der bei der WM im eigenen Land ganze 20 Minuten auf dem Platz stand – in der Partie gegen die DDR. Eine Einwechslung zur Unzeit, auch Netzer konnte das Spiel nicht mehr drehen. Das wurde zu Unrecht ihm angelastet, seine Karriere in der Nationalmannschaft war damit beendet.
Telstar, der offizielle Ball der WM 1974 © Wikipedia / Florian K – WorldcupWiki, CC BY-SA 2.5
Durch diese Montagen in die Partie zwischen Deutschland und der DDR hinein entsteht ein ungeheurer Sog, dem man sich weder entziehen kann noch will. Reng montiert Sportliches und Poltisches, West und Ost und zeigt, wie komplex die Querverbindungen sind. Die FAZ schrieb in ihrer Rezension des Buchs: Reng "kennt die faszinierende Wirkung, die solche Montagesequenzen auch in Spielfilmen entfalten können, weil sie das Synchrone bündeln und damit intensivieren."
Reng fängt an einem einzigen Tag eine ganze Zeit ein und beschreibt, was in beiden deutschen Staaten damals wichtig war. Die vielen politischen, kulturellen sportlichen und menschlichen Episoden aus der deutsch-deutschen Geschichte machen dieses Buch so lesenswert. Erst jetzt ist über dieses Spiel und Sparwassers Tor wirklich alles gesagt, was zu sagen ist.
Foto: Nicole Dietzel, Dinias
(Jutta Hamberger)+++
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