19.05.24 - 1929 erhält Thomas Mann für die "Buddenbrooks" (erschienen 1901) den Literaturnobelpreis. Ganz explizit für diesen Roman, obwohl Thomas Mann in den Jahrzehnten seither als Schriftsteller nicht untätig gewesen war.
Erhellende und entlarvende Sitzungsprotokolle
Die einbändige Gesamtausgabe des Romans mit dem Umschlag von Wilhelm Schulu aus dem ...© Wikipedia / H.-P. Haack
Lübecker Altstadt (Foto von 2006) mit den Örtlichkeiten, die im Roman genannt werden: ...© Wikipedia
Autor Thomas Mann im Jahr 1929 © Wikipedia /Nobel Foundation
Die Stockholmer Jury begründet ihre Entscheidung damit, dass das Werk "im Lauf der Jahre eine immer mehr sich festigende Anerkennung als ein klassisches Werk der zeitgenössischen Literatur gewonnen hat." Wenn man bedenkt, welchen Ärger der Roman bei Erscheinen auslöste, ist das eine respektable Karriere. Manns Verleger fand das Manuskript zu lang und verlangte Kürzungen. Thomas Mann weigerte sich. Nach einigen Diskussionen gab Samuel Fischer nach und publizierte den Roman – zunächst in zwei Bänden. Das tut dem Absatz nicht gut. Und in Lübeck ist man wechselseitig fasziniert oder empört, denn viele erkennen sich in diesem Buch wieder, nicht alle sind über ihre literarische Verarbeitung erfreut. Thomas Mann gilt fortan als Nestbeschmutzer. In der Stadt kursieren Schlüssellisten zum Roman. Der Erfolg der "Buddenbrooks" beginnt, als der Fischer Verlag endlich eine einbändige Ausgabe herausbringt.
Der Stammbaum der Familie Buddenbrook © Wikipedia / A. Weil CC BY-SA 4.0
Aber warum legt sich das Stockholmer Komitee auf diesen Roman fest, warum ehrten sie nicht das Gesamtwerk? Des Rätsels Lösung: Die Vergabe war eine Absage an den "Zauberberg". Der nämlich war dem Komitee zu modern. Woher man das weiß? Aus den Sitzungsprotokollen, denn die Stockholmer Akademie öffnete Ende der 1980er Jahre ihr Archiv. Die Lektüre ist sehr erhellend, denn vielleicht geht es Ihnen wie mir und Sie fragen sich immer mal wieder: "WTF? Wieso denn die oder der?" Man sieht an vielen Entscheidungen sehr schön, wie fehlbar Juroren sein können – auch wenn sie im Falle Thomas Manns zwar den richtigen Autor, aber eben mit dem falschen Werk herausgegriffen haben. Denn so fantastisch die "Buddenbrooks" auch sind, der "Zauberberg" ist ein Meilenstein der deutschen Literatur.
Der Zauberberg – viel zu modern!
1924 war Thomas Mann das erste Mal für den Literatur-Nobelpreis im Gespräch, vorgeschlagen hatte ihn Gerhard Hauptmann (der seinerseits 1912 gewonnen hatte). Aber die Jury konnte sich nicht einigen und kürte schließlich den Polen Wladyslaw Reymont. Auch, weil man erst mal abwarten wollte, was Thomas Mann denn noch so produzieren werde. 1928 wurde Thomas Mann erneut nominiert – der "Zauberberg" lag nun vor. Aber oh weh, seine Komplexität und Tiefe erschlossen sich dem Komitee nicht, das sei zwar ein "in mehrfacher Hinsicht bemerkenswertes Werk mit bedeutendem Inhalt, aber unter ästhetischen Gesichtspunkten zu weitschweifig und zu schwerfällig". Aha. Nun war Thomas Mann damals einer der ganz Großen der Literatur, an ihm vorbei kam man nicht. Eigentlich. Den Juroren war es egal, sie machten genau das, ausgezeichnet wurden Henri Bergson (1927) und Sigrid Undset (1928).
Das Buddenbrook-Haus in Lübeck © Wikipedia
1929 stand Thomas Mann wieder auf der Vorschlagsliste. Der Vorsitzende des Komitees, Per Hallström, der Mann schon 1924 hatte auszeichnen wollen, griff argumentativ in die Trickkiste und erklärte seinen Kollegen: "In seinem menschlichen Gehalt, wenn auch nicht in der Großartigkeit des Stils, nähert er sich dem klassischen Realismus Tolstois an und behauptet dabei seine Eigenständigkeit schon durch die Unterschiede in Milieu und Kultur – bei dem Deutschen ist das Bürgertum, was bei dem Russen der Adel war." ." Der menschliche Gehalt und das Bürgertum - das war dann endlich der Ritterschlag.
Grandios scheitern
Elisabeth Mann (Thomas Manns Tante) war das Vorbild für Tony Buddenbrook ...© Wikipedia
Friedrich Mann war das Vorbild für Christian Buddenbrook © Wikipedia
Herrmann Fehling war das Vorbild für Moritz Hagenström © Wikipedia / Anrnold Mocsigay
Thomas Mann war Anfang 20, als er mit dem Schreiben begann und die eigene Familiengeschichte zu einem Roman verarbeitete, der es in sich hatte. Die "Buddenbrooks" sind schulische Pflichtlektüre, jedem, der an Thomas Mann denkt, fällt mit Sicherheit zuerst dieser Roman ein. Ja, wir haben einen Schlüsselroman vor uns, aber viel spannender ist ja, was Thomas Mann aus der vorgefundenen Wirklichkeit macht und wie er sie verfremdet. Fast nichts ist so, wie es scheint, und dass wir hier eine Geschichte des Scheiterns lesen, ist schon auf den ersten Seiten spürbar.
Die Buddenbrooks scheitern – ökonomisch, menschlich, seelisch. Thomas Buddenbrook, der Erbe, empfindet die Familientradition nur als Last und wird ihr letztlich nicht gewachsen sein. Sein Bruder Christian ist ein Bohemien und Taugenichts. Seine Schwester Tony ist nicht die hellste Kerze auf der Torte, gutmütig und mitfühlend zwar, aber auch mutlos, was den eigenen Lebensentwurf angeht. Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn sie den Mann geehelicht hätte, den sie liebte? Mir haben sich die Szenen zwischen ihr und Morten Schwarzkopf in Travemünde für immer eingeprägt: wenn beide "auf den Steinen" sitzen, was zum Synonym für das Leben wird, das Tony gern führen würde, aber eben nicht tut. Stattdessen heiratet Tony zweimal, und wird zweimal unglücklich mit ihren Ehemännern. Auch die Scheidungen sind Geschichten des Scheiterns. Thomas schließlich heiratet die Musikerin Gerda, die vieles ist, aber ganz gewiss keine Matriarchin, und die sich mit der Geburt von Söhnchen Hanno total verausgabt. Über dessen Leben liegen vom ersten Tag an die Todesschatten.
Sprachliche und gestalterische Wucht
Thomas Johann Heinrich Mann (Thomas Manns Vater) war das Vorbild für Thomas Buddenbrook ...
Thomas Manns 1975 von Ulrich Beier geschaffenes Memorial steht in der Breiten Straße/Beckergrube ... Wikipedia / Kresspahl CC BY-SA 4.0
Am Strand von Travemünde lässt es sich gut “auf den Steinen sitzen“ und nachdenken, ...© Wikipedia / Deniese Hastert CC BY-SA 4.0
Mich fasziniert an diesem Roman Thomas Manns Sprachkunst. Ihm gelingt es, mit wenigen Strichen Charaktere sprachlich zu zeichnen – und sie zu überbordend lebendigen Figuren zu gestalten. Manche dieser Figuren begegnen einem nur einmal, andere den ganzen Roman hindurch. Manchen fühlt man sich besonders nah, andere möchte man aus ihrer Lethargie oder Lebensuntüchtigkeit am liebsten herausschütteln.
Schon im Einweihungsfest des neuen Buddenbrook-Hauses in der Mengstraße ganz zu Beginn des Romans zeigt sich Manns ganze erzählerische Kunst, wenn er aus Familiengeschichte, Zeitgeschichte, Tagespolitik, Geschäfte, die Geschichte des Hauses, Psychologie, das gute und üppige Essen, die verschiedenen Generationen, die Tischgespräche und natürlich Gratulationen und Toasts ein vielschichtiges Panorama baut. Es ist ein Hochgenuss, das zu lesen, auch, weil hinter jeder Vordergründigkeit eine abgrundtiefe Hintergründigkeit steckt.
Ich mag die Konsequenz dieses Romans, der uns ein ehernes Gesetz vor Augen führt: Sich dem Wandel entgegenzustemmen führt in den Niedergang. Wer Zukunft sichern will, muss Neues mit Altem verbinden. Kraftvoller und lesenswerter als die Buddenbrooks ist noch keine Familie gescheitert.
Foto: Nicole Dietzel, Dinias
(Jutta Hamberger)+++
Was wir lesen, was wir schaun - weitere Artikel
FULDA - 10.11.2024
Was wir lesen, was wir schauen (106)
"Ich werde nie zurückkommen" - Ruth Maier, Es wartet doch so viel auf mich
FULDA - 03.11.2024
Was wir lesen, was wir schauen (105)
Günter Grass, Das Treffen in Telgte - Gestern wird sein, was morgen gewesen ist
FULDA - 20.10.2024
Was wir lesen, was wir schauen (104)
Anne Applebaum: Verlockung des Autoritären - Jenseits von richtig und falsch
FULDA - 06.10.2024
Was wir lesen, was wir schauen (103)
Nina Burleigh, Donald Trump und seine Frauen - Ehefrauen als Accessoires
FULDA - 22.09.2024
Was wir lesen, was wir schauen (102)
Marion Zimmer-Bradley, Die Nebel von Avalon - Eine Welt voll Zauber und Magie
FULDA - 08.09.2024
Was wir lesen, was wir schauen (101)
Edna O’Brien, Country Girls - Die furchtlose Erzählerin der Wahrheit
FULDA - 25.08.2024
Was wir lesen, was wir schauen (100)
Ephraim Kishon, Drehen Sie sich um, Frau Lot - Der Mann mit den drei Karrieren
FULDA - 11.08.2024
Was wir lesen, was wir schauen (99)
Betty Smith, Ein Baum wächst in Brooklyn - Ein Mutmacherbuch
FULDA - 28.07.2024
Was wir lesen, was wir schauen (98)
"Make Hummus, not War!" - Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
FULDA - 14.07.2024
Was wir lesen, was wir schauen (97)
Ross Macdonald, Schwarzgeld - Vom richtigen und falschen Handeln
FULDA - 30.06.2024
Was wir lesen, was wir schauen (96)
Ronald Reng, 1974 - Deutschland spielt gegen Deutschland
FULDA - 16.06.2024
Was wir lesen, was wir schauen (95)
M. Atwood, Report der Magd -"Ich schreibe Bücher, damit sie nicht wahr werden"
FULDA - 02.06.2024
Was wir lesen, was wir schauen (94)
Zuhause zwischen Berlin und Tel Aviv - Mirna Funk, Von Juden lernen
FULDA - 05.05.2024
Was wir lesen, was wir schauen (92)
Marianne Brentzel, Mir kann doch nichts geschehen - Nesthäkchen im KZ
FULDA - 21.04.2024
Was wir lesen, was wir schauen (91)
Cord Jefferson, American Fiction - Heucheln Sie ruhig weiter
FULDA - 07.04.2024
Was wir lesen, was wir schauen (90)
Kristine von Soden, Ob die Möwen manchmal an mich denken?
FULDA - 24.03.2024
Was wir lesen, was wir schauen (89)
Johannes Mario Simmel, Und Jimmy ging zum Regenbogen - zerstörte Träume
FULDA - 10.03.2024
Was wir lesen, was wir schauen (88)
Kerstin Wolff: Tomate, Fahrrad, Guillotine - kurze Frauengeschichte in 30 Bildern
FULDA - 03.03.2024
Was wir lesen, was wir schauen (87)
Erich Kästner, Emil und die Detektive - Zeit für kluge Kinder
FULDA - 11.02.2024
Was wir lesen, was wir schauen (86)
Volker Kutscher, Olympia - Deutschland auf dem Weg in die Finsternis
FULDA - 28.01.2024
Was wir lesen, was wir schauen (85)
Wieslaw Kielar, Anus Mundi - Fünf Jahre in Auschwitz - "Ich will leben"
FULDA - 14.01.2024
Was wir lesen, was wir schauen (84)
Dorothy L. Sayers, Starkes Gift - Alles hieb- und stichfest?
FULDA - 31.12.2023
Was wir lesen, was wir schauen (83)
Auf ein gutes neues Jahr mit horizonterweiternder Lektüre
FULDA - 19.12.2023
Was wir lesen, was wir schauen (82)
Ein Gabentisch für Sie mit lohnenden Büchern, CDs und Filmen
FULDA - 03.12.2023
Was wir lesen, was wir schauen (81)
Nicholas Blake, Das Geheimnis von Dower House - rätselhaft und very british
FULDA - 19.11.2023
Was wir lesen, was wir schauen (80)
"Make Hummus, not War!" Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
FULDA - 05.11.2023
Was wir lesen, was wir schauen (79)
Martin Doerry, Lillis Tochter - Mein beschädigtes Leben
REGION - 17.09.2023
Was wir lesen, was wir schauen (76)
Lionel Feuchtwanger, Erfolg - Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt
REGION - 03.09.2023
Was wir lesen, was wir schauen (75)
Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein - Haltet fest an euch und euren Zielen
REGION - 20.08.2023
Was wir lesen, was wir schauen (74)
Loren D. Estleman, Kill Zone - "Mein Beruf ist das Töten"
REGION - 06.08.2023
Was wir lesen, was wir schauen (73)
The Collected Words of Jim Morrison - No one here get’s out alive
REGION - 23.07.2023
Was wir lesen, was wir schauen (72)
Elizabeth George, Auf Ehre und Gewissen - Nicht Gold, sondern Grauen
REGION - 09.07.2023
Was wir lesen, was wir schauen (71)
Stefan Kruecken, Das muss das Boot abkönnen - Das Meer, der große Sortierer
REGION - 25.06.2023
Was wir lesen, was wir schauen (70)
Selma Lagerlöf, Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen
REGION - 11.06.2023
Was wir lesen, was wir schauen (69)
Gwen Bristow, Kalifornische Sinfonie: Go West - der Liebe wegen
REGION - 14.05.2023
Was wir lesen, was wir schauen (68)
Jessamine Chan, Institut für gute Mütter - "Ihre Tochter ist jetzt bei uns"
REGION - 16.04.2023
Was wir lesen, was wir schauen (67)
Dashiell Hammett, Der Malteser Falke - Die Revolution des Kriminalromans
REGION - 02.04.2023
Was wir lesen, was wir schauen (66)
Marie Antoinette – die verkannte Königin
REGION - 19.03.2023
Was wir lesen, was wir schauen (65)
Vicki Baum, Menschen im Hotel - Hier ist immer was los
REGION - 14.03.2023
Sensationell: vier Oscars für deutschen Film
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
REGION - 05.03.2023
Was wir lesen, was wir schauen (64)
Lee Child, Die Hyänen (Jack Reacher Bd. 24) - Ein amerikanischer Held
REGION - 24.02.2023
Was wir lesen, was wir schauen (63)
Serhij Zhadan, Himmel über Charkiv - Der Chronist des Krieges
REGION - 05.02.2023
Was wir lesen, was wir schauen (62)
Prince Harry, Spare – Reserve - Der klagende Prinz
REGION - 22.01.2023
Was wir lesen, was wir schauen (61)
Reiner Engelmann, Der Fotograf von Auschwitz - "Uns der Geschichte stellen"
REGION - 08.01.2023
Was wir lesen, was wir schauen (60)
Agatha Christie, Und dann gab’s keines mehr - Der schöne Schein trügt
REGION - 18.12.2022
Was wir lesen, was wir schauen (59)
Bücher und Filme für "zwischen den Jahren" - Weihnachtszeit - Schmökerzeit!
REGION - 04.12.2022
Was wir lesen, was wir schauen (58)
Ach, Sie lieben Kunst? - Hannah Rothschild, Die Launenhaftigkeit der Liebe
REGION - 20.11.2022
Was wir lesen, was wir schauen (57)
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
REGION - 06.11.2022
Was wir lesen, was wir schauen (56)
Maggie Haberman, Täuschung - Aufstieg Trumps und Untergang Amerikas
REGION - 23.10.2022
Was wir lesen, was wir schauen (55)
Emelie Schepp, Nebelkind - Manche Wunden heilen nie
REGION - 09.10.2022
Was wir lesen, was wir schauen (54)
John Sweeney, Der Killer im Kreml - Der Zar der Korruption
REGION - 25.09.2022
Was wir lesen, was wir schauen (53)
Alan Bennett, Die souveräne Leserin - Lesen gegen die Leere des Lebens
REGION - 24.07.2022
Was wir lesen, was wir schauen (52)
Anja Mazuhn, Meine wilden Inseln - Die Weite des Himmels und der See
REGION - 10.07.2022
Was wir lesen, was wir schauen (51)
Aiga Rasch, Im Schatten des Ruhms - Die Mutter der drei Fragezeichen
REGION - 26.06.2022
Was wir lesen, was wir schauen (50)
Theodor Fontane, Der Stechlin - Ein neues Zeitalter bricht an
REGION - 12.06.2022
Was wir lesen, was wir schauen (49)
Lupita Nyong‘o: Sulwe - Feiere das Leuchten in Dir
REGION - 29.05.2022
Was wir lesen, was wir schauen (48)
Emily Ratajkowski, My Body - Schön und feministisch
↓↓ alle 57 Artikel anzeigen ↓↓