05.05.24 - Else Urys "Nesthäkchen-Reihe" zählte zu den Lieblingsbüchern meiner Mutter, auch ich las sie natürlich. Aber mein Ury-Aha-Moment kam erst viele Jahrzehnte später, als ich ein Foto mit einer Gedenkplakette für Else Ury auf dem Berliner Friedhof Weißensee sah. Moment mal? Jüdischer Friedhof? Die Ury –Jüdin? Das war eine sehr unerwartete Begegnung mit der deutschen Vergangenheit. Ich musste schwer schlucken. Else Urys Geschichten haben den Zweiten Weltkrieg überlebt – sie selbst nicht. Auch wenn sie die bürgerlichste, deutscheste, bekannteste und erfolgreichste Jugendbuch-Autorin des frühen 20. Jahrhunderts gewesen ist.
Was – die Ury war Jüdin?
Else Ury, eine der bekanntesten und erfolgreichsten Autorinnen der 1920er Jahre ...© Wikipedia
Im schlesischen Krummhübel kaufte die Ury sich Haus Nesthäkchen als Feriendomizil ...© Wikipedia
„Nesthäkchen und ihre Puppen“ ist der erste Band der Serie © Wikipedia
„Nesthäkchen und der Weltkrieg“ dürfte der Band der Serie sein, den auch die ...© Wikipedia
Die komplette Reihe liegt auch als E-Book vor © Wikipedia
"Ein kleiner schwarzer Koffer. Ein Ausstellungsstück, beschriftet mit weißer Farbe: ‚Else Sara Ury, Berlin, Solingerstr. 10‘. Zu sehen in der Gedenkstätte der Wannseekonferenz zum Völkermord an den europäischen Juden. Von Zuhause nach irgendwo wird der Koffer reisen. Weisungsgemäß mit Name und Adresse versehen, fertig gepackt. Alles muss bereit sein. Vor allem der Koffer. Die Anweisung vom Reichssicherheitshauptamt ist zugestellt. Die Liste mit den Kleidungsstücken: Hemden, Socken, Unterhosen. Anzahl und Art sind genau festgelegt. Sie wird den Koffer nehmen, in den Abendstunden, wenn der Lastwagen sie abholt, um sie in die Deportationssammelstelle zu bringen. Von dort wird es zum Bahnhof Putlitzstraße in Moabit gehen, in den frühen Morgenstunden, in Kälte und Dunkelheit. Der Koffer wird mit mehr als tausend anderen im Kofferwaggon landen, dann in einem Lagerraum von Auschwitz, ausgeleert, der Inhalt entwendet. Man wird ihr alles nehmen. Erst den Koffer, dann das Leben."
Das ist ein Zitat aus Marianne Brentzels Biographie über Else Ury, das mir beim Recherchieren in die Hände fiel und das ich Ihnen heute vorstellen möchte. In wenigen Tagen, am 10. Mai 1933, gedenken wir der Bücherverbrennung. Das ist der erste gute Grund, sich Else Urys zu erinnern, denn auch ihr Werk wurde von den Nationalsozialisten verboten. Der zweite gute Grund: Im Nachkriegsdeutschland wurde "Nesthäkchen" zwar munter weitergelesen, die Geschichte der Autorin aber wurde mit keiner Silbe erwähnt. Else Ury blieb weiter eine Ausgegrenzte.
Die bürgerlichste Jugendbuch-Autorin überhaupt
Else Ury wurde in großbürgerlichen Verhältnissen in Berlin groß. Ihr Vater war Tabakfabrikant, die Mutter literarisch sehr gebildet. Man hatte Dienstboten, die Etagenwohnung war groß, sechs Zimmer waren beheizbar – damals ein Luxus. Die Urys gehörten zu den wohlhabenden, assimilierten jüdischen Bürgern. Wie viele andere Deutsche vertrauten sie auf den Fortschritt – und wohl auch auf den Kaiser. Alle Kinder genossen eine sehr gute Erziehung – Else etwa ging auf das angesehene Mädchenlyzeum in der Ziegelstraße. Die Urys folgten jüdischen Gebräuchen und feierten in der Gemeinde die jüdischen Festtage, waren aber nicht streng religiös.
Else Ury begann früh mit dem Schreiben, die meisten ihrer Geschichten spielen in Berlin. Sie heiratete nie, ganz im Gegensatz zu Annemarie Braun, der Heldin ihrer Nesthäkchen-Serie. In keinem ihrer Bücher stehen unverheiratete Frauen im Mittelpunkt, bzw. sie stehen als ‚unverheiratet‘ nur insofern im Mittelpunkt, als dies ein transitorischer Zustand war. Unverheiratet bleiben Nebenfiguren – Dienstboten, Tanten, Lehrerinnen. Sehr oft haben aber genau diese Frauen auf die Kinder in den Romanen großen Einfluss. Auch Religion spielt in ihren Büchern keine Rolle, das jüdische Berlin taucht nirgends auf. Sehr wichtig hingegen ist die Bildung für Frauen. Die Ury teilte die Ideen und Ideale der Frauenbewegung und thematisiert das in ihren Büchern immer wieder. Für uns klingt das heute völlig normal – aber das war es damals nicht. Es war hochmodern. Man darf nicht vergessen, erst 1908 wurde in Preußen das Immatrikulationsverbot für Frauen aufgehoben.
Die Nesthäkchen-Serie, geschrieben zwischen 1912 und 1925, umfasst insgesamt zehn Bände, verkaufte sich millionenfach und machte die Ury zu einer wohlhabenden Frau. 1926 erfüllte sie sich einen Lebenstraum – ein Sommerhaus im schlesischen Krummhübel. "Haus Nesthäkchen" wird zum Feriendomizil der ganzen Familie.
Verfemt, verboten, ermordet
Gedenktafel für Else Ury in der Kantstr. 30, wo sie bis 1933 lebte © Wikipedia CC BY-SA 3.0
Stolperstein vor dem sogenannten „Judenhaus“ in der Solinger Straße 10 in Moabit ...© Wikipedia / OTFW CC BY-SA 3.0
Gedenktafel in der Ziegelstr, 12 (Berlin Mitte) – an der ersten Städtischen höheren ...© Wikipedia / OTFW CC BY-SA 3.0
Grabstein der Familie Lesser-Ury auf dem Friedhof Weißensee © Wikipedia /JanManu CC BY-SA 3.0.jpg
Die Reihe „Professors Zwillinge“. Der letzte Band ist leider in meinen Beständen ...© Jutta Hamberger
Foto: Nicole Dietzel, Dinias
Einen Nesthäkchen-Band kennen allerdings vermutlich auch die größten Fans der Serie nicht: "Nesthäkchen im Krieg" heißt er. Das ist ein Buch, das kaum auszuhalten ist in seiner stramm-patriotischen Gesinnung und seinem Hurra-Geschrei anlässlich des Kriegsausbruchs 1914. Es ist unklar, warum die Ury sich so an den Zeitgeist anbiederte. Aber sie hat das Buch selbst geschrieben, daran besteht heute kein Zweifel mehr. Auch das gehört zur Auseinandersetzung mit ihr. Else Ury war keine Heldin, sie war keine Widerstandskämpferin, und zu ihr gehört eben auch dieses schreckliche und unerträgliche Buch. Es ist eines von fast 40 Büchern, die sie geschrieben hat, das letzte 1933, im Jahr von Hitlers Machtergreifung.
Man kann davon ausgehen, dass die Ury nicht einmal ansatzweise ahnte, dass sie als Jüdin bald verfemt und verfolgt werden sollte. 1935 wurde sie aus der Reichsschrifttum-Kammer ausgeschlossen, schreiben durfte sie fortan nicht mehr. Rassengesetze und andere Erlasse machten ihr das Leben schwer. Die Nationalsozialisten eigneten sich ihr Vermögen an, auch ihr Ferienhaus in Krummhübel. Sie wird aus ihrer Wohnung vertrieben und muss in ein sogenanntes ‚Judenhaus‘ in Moabit umziehen. Am 6. Januar 1943 wird Else Ury nach Auschwitz deportiert und dort am 13. Januar 1943 ermordet. Else Urys Leben "ist in all seinen Stationen entsetzlich exemplarisch für seit zwei bis drei Generationen assimilierte Juden im deutschen Kaiserreich, die sich für Bürger wie alle anderen hielten und sich nicht vorstellen konnten, dass ihr heiß geliebtes Vaterland sie ausstoßen und verraten könnte." (Sybil Gräfin Schönfeldt in der SZ vom 29.10.2015)
Leider keine harmlose Erfolgsgeschichte
Ach ja, "Nesthäkchen"! Ich habe mir also diese Serie wieder hervorgeholt, und noch eine andere der Ury, sie heißt "Professors Zwillinge". Die schenkte mir meine beste Freundin Agnes nach und nach zum Geburtstag. Weder in der einen noch in der anderen Reihe ist Aufrührerisches zu bemerken.
Ich verstehe heute besser, warum meine Mutter diese Bücher so liebte. Sie muss darin eine Ermutigung gespürt haben. Ich kann nachvollziehen, wieso die Reihe zum Mädchenbuch-Klassiker wurde und warum Mädchen sich mit der Heldin so identifizieren konnten. Ich habe Respekt vor Else Ury, die für sich etwas verwirklichte, was den meisten Frauen ihrer Generation verwehrt war – sie wurde durch ihre Arbeit berühmt und wohlhabend. Ihr liebevoller Blick auf ihre Heldin ist von tiefer Menschlichkeit erfüllt. Kluge, gebildete und selbstbewusste Frauen sind das Ideal Else Urys. Damit kann ich sehr viel anfangen.
P.S.: Es verwundert nicht, dass es ihre jungen Leserinnen waren, die in den 1990er Jahren auf Else Urys Schicksal aufmerksam wurden: Sie erkannten auf einem Koffer in einer Ausstellung in Auschwitz Urys Namen, der ihnen von der Nesthäkchen-Serie vertraut war. Sie recherchierten auf Deportationslisten und schrieben einen Bericht über ihre Entdeckung. Ihre Lehrerin erzählte alles einer Berliner Zeitung, und so wurde die Geschichte von Else Urys Ermordung endlich bekannt. (Jutta Hamberger)+++
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