14.07.24 - Lew Archer ist Humanist und Menschenfreund. Aber einer, der die Menschen nur allzugut kennt. So sagt er einmal: "Die Vergangenheit ist der Schlüssel zur Gegenwart. Die Leute starten früh auf dem Weg des Verbrechens. Und sie beginnen genauso früh auf der Straße der Opfer. Wenn sich die beiden Straßen kreuzen, geschieht ein brutales Verbrechen." Die feine Linie dazwischen entscheidet über Unschuld und Schuld.
Die Dreifaltigkeit des amerikanischen Thrillers
Blick vom Mt. Wilson auf das Becken von Los Angeles bei Nacht © Wikipedia / Geographer CC BY 1.0
Cover Schwarzgeld © Diogenes Verlag
Ross MacDonald © Diogenes Verlag
Am Rodeo Drive © Wikipedia / Commons
Hollywood Sign - es wurde 1923 als Werbetafel für Grundstücke errichtet ...© Pixabay
Hollywood Walk of Fame © Wikipedia / Ben Sherman
Echo Park Lane mit Downtown L.A. Skyline © Wikipedia / Adoramassey CC BY-SA 4.0
Am Strand von Pacific Palisades © Pixabay
Cover Macdonald, Unter Wasser stirbt man nicht © Diogenes Verlag
Am kalifornischen Strand © Pixabay
Bei Big Sur windet sich der Highway No. 1 an der Steilküste entlang © Wikipedia / Tewy, CC BY 2.5
Highway No. 1 im Sonoma County nördlich von Jenner © Wikipedia / Adbar CC BY-SA 3.0
Foto: Nicole Dietzel, Dinias
Lew Archer ist eine Erfindung von Ross Macdonald, und der ist ein Meistererzähler. Seine Verbrechen finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern haben eine weit in die Vergangenheit reichende Vorgeschichte. Ihr Held, Privatdetektiv Archer, ist mindestens genauso viel Psychologe wie Kriminalist. Er mag an der Oberfläche ‚hard-boiled‘ sein, in Wahrheit ist er ein Mann voller Mitgefühl und Verständnis für diejenigen, denen das Leben nicht gut mitgespielt hat. Vielleicht spiegeln sich in diesem Menschenfreund die Erlebnisse, die ihr Autor vor allem als junger Mensch machte. Kenneth Millar, so Ross Macdonalds Geburtsname, war der Sohn eines kanadischen Paars, wuchs aber in den USA auf. Der Vater lässt die Familie früh sitzen. Vor seinem 16. Geburtstag seien seine Mutter und er mehr als fünfzigmal umgezogen, immer auf die Hilfe freundlicher Verwandter angewiesen – so eine Schätzung Millars/Macdonalds. Er sagt von sich selbst, er sei auf dem besten Weg gewesen, ein Hooligan zu werden. Die Rettung kam durch Erziehung, Lesen und – Schreiben. Unser Leseglück!
Macdonald gehört zur Dreifaltigkeit des amerikanischen Thrillers, als da wären Dashiell Hammett, Raymond Chandler und eben Ross Macdonald. Diese drei haben den Thriller wie kaum jemand vor oder nach ihnen geprägt und gezeigt, dass man in der Genreliteratur genauso literarisch erzählen kann wie in der sogenannten hohen Literatur. Zwei seiner Romane wurden mit Paul Newman verfilmt, aus rechtlichen Gründen heißt Archer in den Filmen aber Harper: "Ein Fall für Harper" und "Unter Wassers stirbt man nicht" sind beides sehr sehenswerte Filme.
Zum 100. Geburtstag frisch polierte Neuübersetzung
Kunst und Können schützen aber leider nicht davor, in Vergessenheit zu geraten. So erging es auch Macdonald. Was für ein Glück für uns, dass es weltweit immer Archer-Fans gab, und so begann langsam, aber kontinuierlich eine Macdonald-Renaissance. Nach dem Amsel-, Scherz und Rowohlt-Verlag erscheint er seit 1970 bei Diogenes. 2014 entschied sich Diogenes zur sukzessiven Neuübersetzung der Archer-Romane. Eine Entscheidung, die auch der bekennende Macdonald-Fan Donna Leon gut fand – sie schrieb zu allen Romanen ein Nachwort.
Der Verlag selbst sagt zu den Neuübersetzungen: "Übersetzungen altern bekanntlich schneller als Originale. Da es sich um einen Lieblingsautoren von Donna Leon handelt, die auch eine Diogenes-Autorin ist, wollen wir Ross Macdonald ebenfalls in seiner ganzen Modernität neu vorstellen. Auch im Deutschen können wir mittlerweile sehr knappe und wenige Sätze machen. Die alten Übersetzungen sind durchaus tauglich. Doch in der Neuübersetzung von Singelmann, der auch Monty Python und Bo Fowler übersetzt hat, wirken die Texte wie heute geschrieben."
Eine Frau muss gerettet werden
Wie in fast allen Romanen Macdonalds ist auch in "Schwarzgeld" (1966) der Kern der Erzählung eine "damsel in distress" – ein Mädchen in einer Notlage, aus der sie dringend errettet werden muss. Ein anderes, auch hier auftauchendes Leitmotiv sind zerrüttete Familien, die sowohl am Rand der Gesellschaft als auch in den höchsten Kreisen vorkommen. In "Schwarzgeld" wird Archer von Peter Jamieson, einem Sohn aus sehr reichem Elternhaus damit beauftragt, seine Ex-Verlobte Ginnie Fablon davon zu überzeugen, dass ihr neuer Freund Francis Martel nicht der Richtige für sie ist. Eine Routine-Aufgabe also. Archer wäre aber nicht Archer, wenn er nicht weiter nach vorn und nach hinten schaute als sein Auftraggeber. Und natürlich hat er auch diesmal den richtigen Riecher. So steigert sich die Komplexität des Falls beständig. Uns Leser:innen wird früh klar: hier stehen viele ansehnliche Fassaden herum, hinter denen es deutlich weniger gesittet und rechtschaffen zugeht, als die Bewohner uns glauben machen wollen.
Das alles erzählt Macdonald angenehm gewaltfrei. Mit unerbittlicher Langsamkeit entwickelt sich vor unseren Augen ein veritables Familiendrama. Nicht nur eins, mindestens drei. Männer, die ihre Karriere in den Sand gesetzt haben und sich jetzt mit Kleinklein begnügen müssen. Männer, die ihr Geld und das ihrer Ehefrau durchgebracht und im Leben nichts Vernünftiges geleistet haben. Männer, die wegen ihres geerbten Reichtums noch nie im Leben arbeiten mussten. Männer, die auf sehr junge Mädchen stehen. Männer, die immer kriegen, was sie wollen. Männer, die einem Traum hinterherjagen wie Francis Martel, über den Archer sagt: "Wieder im Auto kam mir der Gedanke, dass Martel einer jener gefährlichen Träumer war, die ihre Träume ausleben, ein Lügner, der seine Lügen mit aller Gewalt wahr werden ließ."
Und Frauen, die sehen müssen, wo sie bleiben, "unerweckte Dornröschen, eingesperrt in einem bescheidenen Häuschen mit einem launischen Professor, der es nicht geschafft hatte, Karriere zu machen." Frauen, "die das Missgeschick der Schönheit nicht unbeschadet überstanden haben" – wie Ginny Falblon und Kitty Hendricks. Frauen, die ihre Gerissenheit hinter vorgetäuschter Unschuld verstecken. Zwar billigt das Leben Frauen in den 60ern mehr Freiheiten zu als in den Jahrzehnten zuvor, die meisten laufen aber nach wie vor einem traditionellen Familien- und Frauenideal hinterher. So bleiben sie abhängig von ihren Männern. Es sind Frauen, die sich irgendwann in ihrem Leben fragen, "wo die Welt abgeblieben ist." Man kann "Schwarzgeld" auch als Auseinandersetzung mit dem Amerikanischen Traum lesen – der noch nie und schon gleich gar nicht für alle leicht zu realisieren war.
Als Archer den Fall gelöst hat, bleibt viel Unordnung und Leid zurück. Drei Morde geschahen in sieben Jahren. Das Puzzle der Vergangenheit ist zwar gelöst, ein besserer Ort ist die Welt deshalb aber nicht geworden. Mit Lakonie fasst Archer seine Lebensphilosophie zusammen: "Ich bemühe mich nur, kein Weltverschlechterer zu sein." Man könnte sehr viel schlechtere Motti haben.
Weiterführende Links
https://www.loa.org/writers/272-ross-macdonald/
https://crimereads.com/ross-macdonald-revival/
https://www.seattletimes.com/entertainment/books/why-you-should-get-reacquainted-with-mystery-novelist-ross-macdonald/
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/buecher-podcast-paul-ingendaay-und-donna-leon-feiern-ross-macdonald-17994919.html
https://www.bleisatz.blog/ross-macdonald-ein-meister-des-plots/
(Jutta Hamberger)+++
Was wir lesen, was wir schaun - weitere Artikel
FULDA - 10.11.2024
Was wir lesen, was wir schauen (106)
"Ich werde nie zurückkommen" - Ruth Maier, Es wartet doch so viel auf mich
FULDA - 03.11.2024
Was wir lesen, was wir schauen (105)
Günter Grass, Das Treffen in Telgte - Gestern wird sein, was morgen gewesen ist
FULDA - 20.10.2024
Was wir lesen, was wir schauen (104)
Anne Applebaum: Verlockung des Autoritären - Jenseits von richtig und falsch
FULDA - 06.10.2024
Was wir lesen, was wir schauen (103)
Nina Burleigh, Donald Trump und seine Frauen - Ehefrauen als Accessoires
FULDA - 22.09.2024
Was wir lesen, was wir schauen (102)
Marion Zimmer-Bradley, Die Nebel von Avalon - Eine Welt voll Zauber und Magie
FULDA - 08.09.2024
Was wir lesen, was wir schauen (101)
Edna O’Brien, Country Girls - Die furchtlose Erzählerin der Wahrheit
FULDA - 25.08.2024
Was wir lesen, was wir schauen (100)
Ephraim Kishon, Drehen Sie sich um, Frau Lot - Der Mann mit den drei Karrieren
FULDA - 11.08.2024
Was wir lesen, was wir schauen (99)
Betty Smith, Ein Baum wächst in Brooklyn - Ein Mutmacherbuch
FULDA - 28.07.2024
Was wir lesen, was wir schauen (98)
"Make Hummus, not War!" - Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
FULDA - 30.06.2024
Was wir lesen, was wir schauen (96)
Ronald Reng, 1974 - Deutschland spielt gegen Deutschland
FULDA - 16.06.2024
Was wir lesen, was wir schauen (95)
M. Atwood, Report der Magd -"Ich schreibe Bücher, damit sie nicht wahr werden"
FULDA - 02.06.2024
Was wir lesen, was wir schauen (94)
Zuhause zwischen Berlin und Tel Aviv - Mirna Funk, Von Juden lernen
FULDA - 19.05.2024
Was wir lesen, was wir schauen (93)
Thomas Mann, Die Buddenbrooks - Lebet wohl im prächt’gen Hause
FULDA - 05.05.2024
Was wir lesen, was wir schauen (92)
Marianne Brentzel, Mir kann doch nichts geschehen - Nesthäkchen im KZ
FULDA - 21.04.2024
Was wir lesen, was wir schauen (91)
Cord Jefferson, American Fiction - Heucheln Sie ruhig weiter
FULDA - 07.04.2024
Was wir lesen, was wir schauen (90)
Kristine von Soden, Ob die Möwen manchmal an mich denken?
FULDA - 24.03.2024
Was wir lesen, was wir schauen (89)
Johannes Mario Simmel, Und Jimmy ging zum Regenbogen - zerstörte Träume
FULDA - 10.03.2024
Was wir lesen, was wir schauen (88)
Kerstin Wolff: Tomate, Fahrrad, Guillotine - kurze Frauengeschichte in 30 Bildern
FULDA - 03.03.2024
Was wir lesen, was wir schauen (87)
Erich Kästner, Emil und die Detektive - Zeit für kluge Kinder
FULDA - 11.02.2024
Was wir lesen, was wir schauen (86)
Volker Kutscher, Olympia - Deutschland auf dem Weg in die Finsternis
FULDA - 28.01.2024
Was wir lesen, was wir schauen (85)
Wieslaw Kielar, Anus Mundi - Fünf Jahre in Auschwitz - "Ich will leben"
FULDA - 14.01.2024
Was wir lesen, was wir schauen (84)
Dorothy L. Sayers, Starkes Gift - Alles hieb- und stichfest?
FULDA - 31.12.2023
Was wir lesen, was wir schauen (83)
Auf ein gutes neues Jahr mit horizonterweiternder Lektüre
FULDA - 19.12.2023
Was wir lesen, was wir schauen (82)
Ein Gabentisch für Sie mit lohnenden Büchern, CDs und Filmen
FULDA - 03.12.2023
Was wir lesen, was wir schauen (81)
Nicholas Blake, Das Geheimnis von Dower House - rätselhaft und very british
FULDA - 19.11.2023
Was wir lesen, was wir schauen (80)
"Make Hummus, not War!" Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
FULDA - 05.11.2023
Was wir lesen, was wir schauen (79)
Martin Doerry, Lillis Tochter - Mein beschädigtes Leben
REGION - 17.09.2023
Was wir lesen, was wir schauen (76)
Lionel Feuchtwanger, Erfolg - Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt
REGION - 03.09.2023
Was wir lesen, was wir schauen (75)
Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein - Haltet fest an euch und euren Zielen
REGION - 20.08.2023
Was wir lesen, was wir schauen (74)
Loren D. Estleman, Kill Zone - "Mein Beruf ist das Töten"
REGION - 06.08.2023
Was wir lesen, was wir schauen (73)
The Collected Words of Jim Morrison - No one here get’s out alive
REGION - 23.07.2023
Was wir lesen, was wir schauen (72)
Elizabeth George, Auf Ehre und Gewissen - Nicht Gold, sondern Grauen
REGION - 09.07.2023
Was wir lesen, was wir schauen (71)
Stefan Kruecken, Das muss das Boot abkönnen - Das Meer, der große Sortierer
REGION - 25.06.2023
Was wir lesen, was wir schauen (70)
Selma Lagerlöf, Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen
REGION - 11.06.2023
Was wir lesen, was wir schauen (69)
Gwen Bristow, Kalifornische Sinfonie: Go West - der Liebe wegen
REGION - 14.05.2023
Was wir lesen, was wir schauen (68)
Jessamine Chan, Institut für gute Mütter - "Ihre Tochter ist jetzt bei uns"
REGION - 16.04.2023
Was wir lesen, was wir schauen (67)
Dashiell Hammett, Der Malteser Falke - Die Revolution des Kriminalromans
REGION - 02.04.2023
Was wir lesen, was wir schauen (66)
Marie Antoinette – die verkannte Königin
REGION - 19.03.2023
Was wir lesen, was wir schauen (65)
Vicki Baum, Menschen im Hotel - Hier ist immer was los
REGION - 14.03.2023
Sensationell: vier Oscars für deutschen Film
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
REGION - 05.03.2023
Was wir lesen, was wir schauen (64)
Lee Child, Die Hyänen (Jack Reacher Bd. 24) - Ein amerikanischer Held
REGION - 24.02.2023
Was wir lesen, was wir schauen (63)
Serhij Zhadan, Himmel über Charkiv - Der Chronist des Krieges
REGION - 05.02.2023
Was wir lesen, was wir schauen (62)
Prince Harry, Spare – Reserve - Der klagende Prinz
REGION - 22.01.2023
Was wir lesen, was wir schauen (61)
Reiner Engelmann, Der Fotograf von Auschwitz - "Uns der Geschichte stellen"
REGION - 08.01.2023
Was wir lesen, was wir schauen (60)
Agatha Christie, Und dann gab’s keines mehr - Der schöne Schein trügt
REGION - 18.12.2022
Was wir lesen, was wir schauen (59)
Bücher und Filme für "zwischen den Jahren" - Weihnachtszeit - Schmökerzeit!
REGION - 04.12.2022
Was wir lesen, was wir schauen (58)
Ach, Sie lieben Kunst? - Hannah Rothschild, Die Launenhaftigkeit der Liebe
REGION - 20.11.2022
Was wir lesen, was wir schauen (57)
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
REGION - 06.11.2022
Was wir lesen, was wir schauen (56)
Maggie Haberman, Täuschung - Aufstieg Trumps und Untergang Amerikas
REGION - 23.10.2022
Was wir lesen, was wir schauen (55)
Emelie Schepp, Nebelkind - Manche Wunden heilen nie
REGION - 09.10.2022
Was wir lesen, was wir schauen (54)
John Sweeney, Der Killer im Kreml - Der Zar der Korruption
REGION - 25.09.2022
Was wir lesen, was wir schauen (53)
Alan Bennett, Die souveräne Leserin - Lesen gegen die Leere des Lebens
REGION - 24.07.2022
Was wir lesen, was wir schauen (52)
Anja Mazuhn, Meine wilden Inseln - Die Weite des Himmels und der See
REGION - 10.07.2022
Was wir lesen, was wir schauen (51)
Aiga Rasch, Im Schatten des Ruhms - Die Mutter der drei Fragezeichen
REGION - 26.06.2022
Was wir lesen, was wir schauen (50)
Theodor Fontane, Der Stechlin - Ein neues Zeitalter bricht an
REGION - 12.06.2022
Was wir lesen, was wir schauen (49)
Lupita Nyong‘o: Sulwe - Feiere das Leuchten in Dir
REGION - 29.05.2022
Was wir lesen, was wir schauen (48)
Emily Ratajkowski, My Body - Schön und feministisch
↓↓ alle 57 Artikel anzeigen ↓↓