Das wichtigste Buch aller Juden ist die Torah. In den fünf Büchern Mose steht die Geschichte des Jüdischen Volks und wichtige Lebensregeln - Archivfoto OlN: Martin Engel

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Zuhause zwischen Berlin und Tel Aviv - Mirna Funk, Von Juden lernen

02.06.24 - Der Davidstern schmückt die Flagge Israels, man sieht ihn an jüdischen Gebäuden, er wird als Schmuckstück getragen. Er symbolisiert die Beziehung zwischen Gott und den Menschen, er ist das Symbol Israels und des Judentums. Aktuell tragen jüdische Menschen in Deutschland ihren Davidstern allerdings selten offen. Warum? Weil sie sich mit einer neuen Welle von Antisemitismus auseinandersetzen müssen.

Zugang zu unserem Jüdischen Erbe

Ich frage mich immer wieder: Wie kann man in einer demokratischen Gesellschaft überhaupt Antisemit sein? Wie kann man seine eigenen Wurzeln ignorieren? Wie kann man Gedanken anhängen, die andere Menschen ihres Glaubens wegen ausschließen? Mal ganz davon abgesehen, dass das wider das Grundgesetz ist, kann man auch als nicht religiöser Mensch wissen, dass das Christentum ohne das Judentum nicht zu verstehen ist. Jesus war gläubiger Jude. Er lebte und wirkte ausschließlich im jüdischen Umfeld. Er sprach Hebräisch und Aramäisch. Seine Jünger waren Juden. Die Urgemeinde in Jerusalem bestand aus Juden und war verwurzelt in den jüdischen Traditionen.

Archivfoto OlN: Martin Engel

Der Davidstern ist weltweit das Symbol für das Judentum © Pixabay

Mirna Funk © Dudy Dayan / dtv

Es gibt also viele gute Gründe, sich mit dem Judentum auseinanderzusetzen. Der aus der Ukraine stammende jüdische Theologe Anatoli Uschomirski formulierte es seiner Bibelkolumne vom 18.02.2023 so: "Nicht wir Juden haben Zugang zu einem nichtjüdischen Erbe, sondern Nichtjuden haben durch den jüdischen Messias Zugang zum jüdischen Erbe bekommen." Der Apostel Paulus spricht in seinem Brief an die Römer von denselben Wurzeln eines Baums, der aber verschiedene Äste habe. Mit Mirna Funks aktuellem Buch kann man diesen Wurzeln nachspüren, erfährt aber auch viel Wissenswertes über die Unterschiede.

Jüdische Kultur und Identität sichtbar machen

Mirna Funk ist nicht die Sorte angepasste Autorin, die anmutig entlang des Mainstreams navigiert. Mit schöner Regelmäßigkeit bringt sie alle auf die Palme – Linke, Rechte, Religiöse, Säkulare, Deutsche, Israelis. Ich mag an ihren Texten, dass sie zum Nachdenken zwingen. Vielleicht hat ihre Vita dazu beigetragen, dass Mirna Funk so gern Regeln bricht und sich jeder Schubladisierung verweigert. Sie ist alleinerziehende Mutter, Feministin, Journalistin und Autorin. Auf die Welt kam sie in Ostberlin – ihr Vater war Jude. Im Judentum gilt das matrilineare Prinzip, sie musste also konvertieren. Ihr Urgroßvater ist der Schriftsteller Stephan Hermlin. Mirna Funk lebt in Berlin und Tel Aviv und sagt von sich selbst: "Meine Hobbys sind über Juden, Sex und Geld zu schreiben."

Cover "Von Juden lernen" © dtv

Der Davidstern ist auf jedem jüdischen Grabstein zu sehen © Pixabay

Beispiel für deutsche Erinnerungskultur – das Mahnmal für die ermordeten Juden ... © Pixabay

Natürlich ist der Titel ihres aktuellen Buchs eine Provokation. Erst recht im Land der Täter, erst recht in dem Land, für das der Schutz Israels nach dem Zweiten Weltkrieg Staatsräson wurde und das gerade von antisemitischen Aufwallungen erschüttert wird. Erst recht, weil sie uns jüdische Denkprinzipien um die Ohren haut und konstatiert, es ginge uns allen besser, würden wir danach leben. Erst recht in einem Land, das Juden vor allem als Opfer sieht und eine sehr spezielle Erinnerungskultur pflegt, sich aber wenig um das Selbstbild nicht nur deutscher Juden kümmert.

Beginnt man zu lesen, denkt man ein ums andere Mal: Verdammt, verdammt, verdammt – sie hat recht. Drei jüdische Grundprinzipien will ich Ihnen heute vorstellen. Im Buch finden Sie natürlich mehr – und ja, eines dreht sich auch um guten Sex.

Das Gute in die Welt bringen

Erinnerung an die verschleppten und ermordeten ungarischen Juden am Ufer der Donau ...© Pixabay

Auch auf Glasfenstern sieht man den Davidstern   © Pixabay

Im Deutschen gibt es ein wunderbares Sprichwort: Jeder ist seines Glückes Schmied. Das kommt dem jüdischen Prinzip "Zedaka" sehr nahe. Das nämlich geht davon aus, dass man weder ein Spielball der Gesellschaft, eines Systems oder der Umstände ist, sondern dass jeder dafür verantwortlich ist, sein Leben bestmöglich zu leben. Dahinter steht die Überzeugung: Wenn Du nicht immer wieder über Dich hinauswächst, kannst Du auch anderen nicht beim Wachsen helfen. Genau das aber ist Deine Aufgabe in der Welt. Es geht nicht darum, Almosen zu verteilen oder darauf zu setzen, dass ein riesengroßer Sozialstaat sich um alles und jeden kümmert. Es geht darum, Menschen in die Lage zu versetzen, ihre eigene Situation zu verbessern. Natürlich geht es immer wieder auch darum, denen mehr Einfluss und Gehör zu verschaffen, die davon zu wenig haben.

Das Prinzip "Zedaka" ist also das Gegenteil von Jammern. Es bedeutet anpacken, loslegen, mutig sein, steinige Wege gehen und bewältigen. "Zedaka" konzentriert sich auf eine Verbesserung des Hier und Jetzt mit Blick auf die Zukunft.

"Zedaka" hängt eng mit dem Prinzip "Tikkun Olam" zusammen – mach die Welt zu einem besseren Ort. Das Judentum interessiert sich nicht sonderlich für jenseitige Paradiese, dafür aber sehr für die Welt, in der wir leben. Mirna Funk: "Es geht eben nicht darum, auf das Gute zu warten, sondern das Gute in die Welt zu bringen. Es geht nicht darum, andere für das Schlechte verantwortlich zu machen, sondern darum, das Schlechte aktiv zu bekämpfen."

Bald ist Europawahl, Sie könnten die Wahlprogramme der Parteien ja einmal auf ihre "Zedaka"- und "Tikkun Olam"-Tauglichkeit hin überprüfen. Wenn Sie das tun, sehen Sie schnell, dass populistische Parteien sofort ausscheiden. Denn außer Anklagen, Jammern und Schuldzuweisungen haben die nichts zu bieten. Beide Prinzipien sind also äußerst tauglich für wehrhafte Demokraten, die ihre Werte lieben und verteidigen.

Richtig streiten

"Was macht ein Jude, der wie Robinson auf einer einsamen Insel strandet?
Er baut zwei Synagogen.
Und was sagt der einsame Jude, wenn man ihn nach Jahren endlich findet?
Die erste Synagoge ist für mich. Die zweite ist die, in die ich niemals gehen würde."

Mit diesem jüdischen Witz versinnbildlicht Mirna Funk, was im jüdischen Denken mit Streitbarkeit gemeint ist. Streit ist – anders als im deutschen Kontext – nicht negativ besetzt, im Gegenteil. Ein Disput zwischen widerstreitenden Auslegungen und Meinungen ist nicht darauf aus, dass eine Seite gewinnt und die andere verliert. Das Prinzip "Machloket", richtiges Streiten, bedeutet Respekt vor der anderen Meinung und die Erkenntnis, dass es andere als die eigene Meinung gibt. Mirna Funk: "Wir müssen nicht nur dazu in der Lage sein, einer Person mit einer anderen Position zuzuhören, sondern diese Position auch aushalten und gleichzeitig anerkennen. Wir müssen einen inneren Machloket entwickeln, um diese andere Position nicht als Angriff auf uns selbst, sondern als Erweiterung unseres eigenen Denkens zu begreifen."

Wer streitet, um recht zu haben, hat den Kerngedanken von "Machloket" nicht verstanden: Erst durch Streiten können wir andere Perspektiven einnehmen. Das verhindert den Glauben an die eigene Unfehlbarkeit oder moralische Überlegenheit. "Machloket" fördert das kritische Denken und die Ambiguitätstoleranz. Man kann keine Lösung finden, wenn man grundsätzlich davon überzeugt ist, dass die andere Seite immer unrecht hat. Und man sollte erst gar nicht nach Simplex-Antworten suchen, sondern sich der Komplexität stellen.

Foto: Nicole Dietzel, Dinias

Wenn wir also lernen, mehr auf Resilienz, Streitkultur und Selbstwirksamkeit zu achten, wenn wir antiideologisch denken und argumentieren, wenn wir uns dazu verpflichten, diese Welt zu einem lebenswerteren Ort zu machen, sind wir einen großen Schritt weiter. Dazu gehört auch, in Krisen nicht gleich aufzugeben. Auch das hat uns das Volk Israels mehrfach vorgelebt: "Sie wollen uns vernichten. Wir haben überlebt. Lasst uns essen!" – so fassen Juden ihre hohen Feiertage gern zusammen. Ich finde dieses "jetzt erst recht!" sehr nachahmenswert. In diesem Sinne Le‘ Chaim – auf das Leben! (Jutta Hamberger) +++

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