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Die Rollkoffer-Symphonie - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
09.05.24 - Nachtruhe? Was ist das denn? In Fulda jedenfalls wartet mancher schlafgestörte Innenstädter an Wochenenden vergebens darauf (zumal dann, wenn er noch nicht mit Klima- und Klang-isolierten Fenstern gesegnet ist). Ab 4 Uhr in der Frühe treten sonntags die ebenso liebestollen wie volltrunkenen Junghirsche auf die Lichtungen der Stadt und brüllen ihre Brunftschreie in die Nacht. Kaum haben sich die letzten heimwärts staksenden Frauen vor so viel hormonellem Überschwang in Sicherheit gebracht – aber noch bevor die Kirchenglocken ihr erstes Lebenszeichen absondern – scheppert es: Die Rollkoffer sind wach.
Deren Besitzerinnen und Besitzer schleifen ihr Reisegepäck übers ehrwürdige Pflaster Richtung Bahnhof oder Parkhaus. Das war’s, das Wochenende in der barocken Stadt. Die Rollkoffer-Symphonie klingt wie das Werk eines Komponisten nach durchzechter Nacht; passt also zum Allgemeinbefinden mancher Koffer-Roller.
Vor 50 Jahren hatte Bernard Sadow, Manager eines amerikanischen Koffer-Herstellers, die Idee, Rollen unter das Gepäck zu schrauben. Aber die großen Kaufhäuser winkten ab. Der Wirtschaftswissenschaftler Robert Shiller: "Niemand kaufte das. Das sieht albern aus, Rollen am Koffer. Wer Hilfe mit seinem Gepäck braucht, findet Kofferträger an jedem Bahnhof". Hach, das waren noch Zeiten! Der Spiegel spottete 2011: "Niemand würde sein Gepäck an einer Leine hinter sich herziehen wollen wie einen Hund. Und überhaupt, war das Ganze nicht eher was für Weicheier?" Koffertragen, wehklagte Mr. Sadow noch im Rückblick, sei halt "so ein Macho-Ding" gewesen. Kein echter Kerl wollte sich dabei ertappen lassen, wie er so ein süßes Frauen-Köfferchen durch die Stadt rollt.
Die Rollen-Verweigerung der Herren verhinderte lange den Massen-Erfolg des geschmeidigen Gepäckstücks. Da muss sich was geändert haben. Sind die Männer einfach bequemer geworden? Oder weicher? Dem Lärm, der von den Rollkoffern entfacht wird, versuchte 2019 tatsächlich ein Berliner Akustik-Ingenieurbüro ("Moll GmbH) auf die Spur zu kommen. Schwierige Angelegenheit, zumal der Trolley einfach nicht stillhält, sondern sich "wie eine wandernde Punktschallquelle" verhält. Am lautesten ist natürlich der Stahlkoffer, auf Kopfsteinpflaster schafft er sogar bis zu 103 Dezibel. Ein Presslufthammer soll auch nur 110 dB leisten...
Kopfsteinpflaster ist der natürliche Feind des Rollis. Die Koffer brauchen nämlich, erläuterte die Süddeutsche bereits 2005 etwas besserwisserisch, "einen fugenlosen, glatten Untergrund" – das Leben seiner Besitzerinnen und Besitzer kenne ja gleichfalls "keine Unebenheiten". Wer sich aufs Kopfsteinpflaster von Altstädten verirre, verliere hingegen schlagartig seine Souveränität.
"Reist lieber mit dem Rucksack"
Womit wir wieder in Fulda wären. Oder erstmal in Dubrovnik. Im letzten Sommer hat die kroatische Stadt Touristen dazu aufgefordert, nicht mehr mit Rollkoffern anzureisen, weil die auf dem mittelalterlichen Pflaster einen infernalischen Lärm entfachen würden und den Einheimischen den Schlaf rauben. Zeitweise war sogar von Rollkoffer-Verboten die Rede. "Reist lieber mit dem Rucksack", heißt es in einem Youtube-Video aus Kroatien. Wäre das nicht auch was für Fulda?
Aber nicht doch! Das Scheppern der Rollkoffer muss Stadtoberen, Tourismus-Managern, Hoteliers und Gastwirten wie eine verheißungsvolle Melodie in den Ohren klingen: die anschwellende Rollkoffer-Symphonie ist ein unüberhörbarer Indikator für touristischen Erfolg. 2023 hat die Stadt mit fast 740.000 Übernachtungen einen Rekord erreicht. So soll’s natürlich weitergehen. Roll, Koffer, roll!
Ach, und noch was: Für Menschen, die einfach nicht einschlafen können, gibt’s hier einen kostenlosen Tipp für eine Einschlafhilfe – das hypnotisierende Geräusch eines Rollkoffers auf glatter Teerstraße, dargeboten auf der sonderbaren Webseite Geräuschesammler.de. Bitteschön: Lauschen Sie, dann schlafen Sie. https://www.geräuschesammler.de/node/447 (Rainer M. Gefeller) +++