Es lebe die vegane Gans - Bemerkungen von R. M. Gefeller
20.12.24 - Eine mitfühlende Frage an alle Mütter und Großmütter und an deren männliche Begleiter: Liegen die Nerven schon blank? Viermal werden wir noch wach, heissa, dann ist Weihnachts-Krach? Es geht hektisch zu: Geschenke besorgen (oder selbst basteln). Geschenke einpacken. Hoffentlich haben Sie bei dem Hightech-Feuerwehrwagen die Batterien noch nicht eingesetzt – sonst schreit es "Tatütata" aus der Verpackung, bevor das Klingglöckchen zur Bescherung gebimmelt hat. Festlich dekorieren (der Baum in der Ecke wirft leider schon die Nadeln ab). Die Traditions-Gans gegen die vegane Nichte verteidigen. Den Weihnachtsgottesdienst planen – aber nur für die Rest-Familie. Man selbst schafft es leider wieder nicht. Sie sehen ja selbst, was hier los ist. Allerdings wollen wir uns gleich zu Beginn eine kleine Ermahnung von Albert Schweitzer gönnen: "Wer glaubt, ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich. Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht."
"Du Weihnachtsmann!" Lange nicht mehr gehört, dieses Schimpfwort. Genauer gesagt: seit das Land sich am liebsten in Kerzenlicht taucht. Wir wissen ja, was diese Beschimpfung bedeutet: Schlafmützig sollen wir sein, trantütig, ein seelenvoller Gutmensch, der einfach nicht aus dem Quark kommt. Kurz: einer von gestern. Aber jetzt plötzlich sind wir Weihnachtsmänner plötzlich ultra angesagt, das Altmodische, Traditionsbewusste an sich wird modern, man gönnt sich ein bisschen Seele und Gelassenheit und Sentimentalität. Was geht da bloß vor sich?
Wir erleben, wie die großen Themen, die uns monatelang in Atem gehalten haben, mit jedem Tag Annäherung an Heiligabend zu schrumpfen beginnen. Stell Dir vor, Lindners FDP würde noch stärker verdampfen – und keiner ist mehr alarmiert. Stell Dir vor, die Herren Merz und Scholz kokettierten mit einer "Großen Koalition" – und ganz Deutschland zuckt mit den Achseln. Nahost? Trump? Ukraine? War da was, ist da was? Wir ziehen uns zurück und stellen mal kurz das Radio lauter.
I‘m dreaming
Of a White Christmas.
Das hat er wirklich schön gesungen, der Bing Crosby. 1942 schon hat er seinen Traum von der Weißen Weihnacht mit ordentlich Schmelz dargeboten. Auf der Ewigen-Hitliste der Weihnachts-Songs hält sich der tausendfach nachgesungene Ohrwurm immer noch ganz oben. Und warum träumen wir so hartnäckig von Weißer Weihnacht, obwohl uns im mitteleuropäischen Flachland doch beim Fest der Feste eher ein fieser Nieselregen als Schneeflocken auf die neuen Skimützen rieselt? Weil, sagen die Farb-Psychologen, Weiß die Summe aller Farben des Lichts ist. Sie gilt als vollkommen und rein, als Farbe der Götter und des Himmels. Und Schneeweiß ist das weißeste Weiß überhaupt.
In der Werbung sehen wir‘s natürlich derzeit überall. Kaum ein Spot, der ohne den herzerwärmenden Einsatz von Schnee auskommt. Kaum ein Einkaufszentrum ohne künstlich beschneite Auslagen. Aber echt ist besser. Können wir an Weihnachten mit Schnee rechnen? Klare Antwort: Ja. Zumindest auf der Zugspitze. Und auf der Wasserkuppe auch (wenn uns nicht noch eine Warmfront überfällt). Ein Halleluja den Schnee-Kanonen.
Weiße Weihnachten (nach metereologischer Definition mindestens ein Zentimeter Schnee vom 24. bis 26. Dezember) gab’s laut Wetter-Archiv in den vergangenen hundert Jahren bundesweit nur sechsmal, und zwar 1906, 1917, 1962, 1969, 1918, 2010. In der Erinnerung fühlt sich das ganz anders an. War nicht Weihnachten meistens schneeweiß? Sind die Fuldaer etwa nicht andauernd auf Langlaufskiern zum Gottesdienst im Dom gerutscht? Doch, doch, das kam auch vor – aber selten. 1999 hat der Orkan Lothar unser Fest durchgeschüttelt. 2004 lag in der Weihnachtswoche Schnee, aber an Heiligabend war alles weggetaut. 2006 fand man den Schnee erst in tausend Metern Höhe.
Wofür brauchen wir eigentlich Weihnachten? Bitte, nehmen Sie‘s nicht persönlich – es soll hier niemand verärgert werden, weder die Einzelhändler noch die Geschenkefabrikanten noch jene, die gläubig sind. Aber die Frage wird man doch stellen dürfen. Gewiss kann man fix Einverständnis erzeugen, dass Weihnachten sich nicht erschöpfen darf in dieser marternden adventlichen Klangwelt: Macht hoch die Tür als Handy-Klingelton, ein seichter Christmas-Matsch, der uns auf sämtlichen Radiosendern die Ohren verklebt sowie das hektische Rascheln der Einkaufstüten. Ja, das soll es nicht sein. Ist es aber. Feiern wir also das falsche Weihnachten?
Bischöfe und Pfarrer werden diese Frage aus vollem Herzen bejahen, obwohl sich doch die Kirchen in diesen Wochen besser füllen als sonst. Das schnelle Weihnachtsgebet enthebt uns fürs restliche Jahr der religiösen Verpflichtungen. Aber wer nutzt schon diese Tage vor und während dieses populärsten christlichen Feiertages – den Nichtgläubigen zur Erinnerung: Wir feiern die Geburt Jesu – zur dafür vorgesehenen Einkehr und Besinnung?
Die Mehrheit sicher nicht. Während alle Jahre wieder Theologen, Politiker, Philosophen und sogar Journalisten dem Bedeutungsgehalt der Weihnacht nachzuspüren versuchen, feiert die westliche Gesellschaft die gesetzlich vorgeschriebene Freizeit mit Gänsen und Puten und Sekt – und natürlich mit Geschenken. Nachdenklichkeit über die christliche Lehre hat auch in dieser Zeit meistens einen ähnlichen Tiefgang wie ein Flachbildschirm. "Die Ware Weihnacht ist nicht die wahre Weihnacht", hat der kämpferische Schweizer Theologe und Schriftsteller Kurt Marti geklagt.
Nun sind wir also mittendrin im Gejammer. Der Papst stellt bekümmert fest, die westlichen Gesellschaften hätten ihre christlichen Wurzeln längst verleugnet. Der europäische Kontinent sei mitsamt seiner sich immer noch christlich nennenden Parteien auf dem Weg in die Gottlosigkeit. Die andauernde Zahl der Kirchenaustritte bestätigt den Eindruck, dass Europa sich "entchristlicht". Manche Westeuropäer – bei weitem nicht nur die Ultrakonservativen – befürchten, dass eine derart aufgeweichte Gesellschaft hilflos wird. Wie etwa können wir dem glaubensstarken Islam widerstehen, wenn wir selbst eher gleichgültig sind in religiösen Fragen? Andererseits: die Machtlosigkeit der kirchlichen Institutionen bedeutet ja keineswegs, dass auch die christlichen Werte wertlos geworden sind. Nächsten Dienstag gegen Mittag schließen bei uns die Supermarkt-Kassen. Spätestens dann könnte es auch für Verkäuferinnen und Verkäufer noch ein echt heiliger Abend werden. Unsere Einkaufs-Orgien zertrümmern ja nicht nur die Weihnachts-Idee, sondern setzen das Personal vielerorts unter unheiligen Stress. Andererseits: Schenken ist schön, oder nicht?
Am 24. Dezember 1945 hat Leopold Figl, seit wenigen Tagen erster Bundeskanzler Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Weihnachtsansprache an sein Volk gehalten. Fünf Jahre lang hatten die Nazis den unbeugsamen Demokraten im KZ Dachau festgehalten, viele Monate in Dunkelhaft, mit dem in Wasser getränkten Ochsenziemer zuschanden geprügelt – gebrochen haben sie ihn nicht. "Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben", sagte er seinen Landsleuten. "Ich kann Euch für den Christbaum, wenn ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben, kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden. Wir haben nichts. Ich kann euch nur bitten: Glaubt an dieses Österreich." Das "Glas einschneiden" bedeutete übrigens den Ersatz der im Krieg zerborstenen Scheiben durch neue Fenster.
Wie kommt es bloß, dass uns Figls schlichte Rede mehr berührt als das neue Rasierwasser und die im Internet geschossene Designer-Tasche? Vielleicht, weil es echter ist als "Last Christmas" und die vor sich hinklimpernde Jingle-Bellerei? Ach, seien wir tolerant. Bei uns jedenfalls geht’s friedlich zu. Der veganen Nichte wird eine Extra-Gans gebraten – innen marinierter Blumenkohl, außen ein Teig aus Süßkartoffeln, Haferflocken und Chia-Samen, in eine gänse-ähnliche Form gefummelt. Während wir die echte Gans tranchieren, kommt der Fake-Vogel in die Backröhre (braucht nur 20 Minuten bei 180 Grad). Weihnachten ist halt doch ein Fest für alle – sogar für einen harten Knochen wie Woody Allen. Der Meister-Regisseur hat uns verraten: "Es ist schon das siebte Mal, dass meine Schwiegermutter an Weihnachten zu uns kommt. Diesmal lassen wir sie rein."
Bravo, Mr. Allen! Hat lange gedauert, aber jetzt hat der Mann die Weihnachts-Botschaft begriffen. (Rainer M. Gefeller) +++