Zwischen den Häusern spielt die Musik: Fulda von oben - Foto: Michael Otto, Künzell

REGION Echt jetzt! (21)

Soundcheck des Sommers - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

23.08.24 - Sind Sie bereit, Herrschaften, für das größte Gratis-Konzert, das Ihre Stadt zu bieten hat? Öffnen Sie Fenster und Ohren, machen Sie sich’s bequem, der Soundcheck dieses Sommers beginnt. Es treten auf: Wespen, Tauben, Trunkenbolde, Bauarbeiter, Rennfahrer, Klavierspieler, wohlklingende Kinder, Kirchenglocken, Skater, Krähen, singende Banausen – alles, was unsere Ohrlöffel mit Klängen füllt.

Früh am Morgen, noch bevor die Sonne über die Dächer kriecht, haben die Stadttauben ihren ersten Auftritt. Wenn ein penetrantes "gang-grrru-guruú-u" uns aus dem Schlaf reißt, wissen wir sofort, was da wieder los ist: Herr Täuberich stolziert auf irgendeinem Dachfirst umher, verbeugt sich vor seiner Auserwählten und will mal wieder nur das eine, übrigens bis zu siebenmal am Tag. Es sei ihm gegönnt, aber geht das nicht auch leiser? Kurz drauf rumpelt ein städtischer Kleinlaster über den Bordstein, ein Metallkorb rappelt – aha, der Müll wird abgeholt, bravo und danke. Was fehlt? Wir warten nicht lang, dann macht die Kirche Meldung. Wir sind schließlich in Fulda!

Straßenmusiker – aufgenommen in Brüssel Foto: Michael Otto, Künzell

Hier spielt die Musik: am Klavier vorm Kaufhaus Schneider Foto von Annemaria Gefeller

Hier spielt die Musik: Mädchen auf dem Klangpflaster Foto von Annemaria Gefeller

Attraktives Stechtier: Das Brummen der Wespe hört man freilich gar nicht gern. ...Foto: Michael Otto, Künzell

Rainer M. Gefeller Grafik: OSTHESSEN|NEWS

Im Lauf des Tages glöckelt es von vorne und von hinten, mal metallisch-intensiv (jawohl, die Christuskirche, fünfstimmig!), dann dunkel und fordernd (Stadtpfarrkirche), später und seltener die drei Glocken der Michaelskirche. Manchmal, wenn Gäste aus der Großstadt zu Besuch sind, fragen sie besorgt, wie man diesen Lärm ertrage. Ach ja, diese Leute sind doch alle hörgeschädigt; zu abgestumpft, um die Dauerbeschallung in ihrer Heimat wahrzunehmen. Frankfurt zum Beispiel liegt gemäß einer Studie des Fraunhofer Instituts für Bauphysik auf einem Spitzenplatz der deutschen Lärm-Hitparade, Flug-, Zug- und Auto-Verkehr sei Dank. Da wollen wir gar nicht mithalten, hören wir lieber rein in die himmlische Klangwelt des Fuldaer Doms. Bis zu zehn Glocken verrichten hier ihr Werk, die meisten erst nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegossen – die Nazis hatten 1943 acht Glocken konfisziert, für den Panzer- und Kanonenbau. Überlebt hat die fast 3.000 Kilo schwere Salvator-Glocke von 1897. Das dickste Ding aber heißt Osanna (5.850 Kilo), benannt nach einer französischen Heiligen, die sich für ein weltabgewandtes Leben einmauern ließ. Die Osannaglocke, schwärmen Kirchen-Kundige, "ist eine besondere Klangschönheit".

Haben Sie schon mal gehört, wenn Krähen ihrem Namen alle Ehre machen? Morgens früh in der Johannisau können Sie eine spektakuläre Klangwelt erleben. Scharen von grausam lauten schwarzen Vögeln schaukeln auf Ästen und Zweigen und lärmen vor sich hin. Sie warten, gleich kommt ihr Essen auf Rädern: Jeden Morgen zwischen 6 und 7 Uhr bringt ein Krähen-Fan Brotkrumen vorbei. Zum Krähen! Beim Frühstück auf der Terrasse geht’s freilich auch nicht beschaulicher zu. Auf der Baustelle in der dauergesperrten Universitäts-Straße röchelt eine Baumaschine. In einem Rohbau gleich in der Nähe wirft jemand seinen Seitenschneider an. Hei, das macht Laune. Wenigstens hört man jetzt das bedrohliche Summen der Wespen nicht mehr. Die haben es auf mein Marmeladenbrötchen und das Eierbrot meiner Frau abgesehen. Eine ertränkt sich in meinem Wasserglas. Ich habe ihr nichts getan! Ist ja auch verboten.

Auf irgendeinem Balkon plärrt ein Radio: HR1, der Sender für die Gouda-Fraktion (die mittelalten Hörer). Der unerträglich gut gelaunte Tim Frühling dröhnt mir in den Ohren, aber ich kann nicht abschalten. Hören wir lieber rüber zum Universitätsplatz. Da hüpfen Kinder auf dem Klang-Pflaster umher, das ist ein freundlicher Sound. Am frisch gestimmten Klavier vorm Kaufhaus Schneider tupft ein behutsamer junger Mann die Tasten. Irgendwo übt jemand auf der Geige. Die Fußgängerampeln fiepen. Auf der Bahnhofstraße hockt ein anderer junger Mann auf dem Boden und zupft konzentriert die Saiten seiner abgeschabten Gitarre. Hin und wieder wehen vom Domplatz Musical-Fetzen von "Bonifatius" herüber. Fulda klingt gut.

Können wir das überhaupt wahrnehmen? Ist Fulda vielleicht eine Stadt der Schwerhörigen? Hier gibt es mehr Experten für Hörgeräte als Musikgeschäfte; wie kommt das? Abhörgeräte fürs Ohr gibt es beispielsweise bei Picard, Krönung, Dittrich, Trabert, Neusehland, Kind, Sedelmayr. Erinnern Sie sich noch an Hans-Joachim "Kuli" Kulenkampff? In den 60er Jahren war er einer der größten Zampanos der deutschen Fernseh-Unterhaltung (mit der Show EWG), danach mit einem Tourneetheater ständiger Gast auf den Provinz-Bühnen der Republik. In den 80er Jahren beschwerten sich zahlende Gäste seines Auftritts in Bad Nauheim, weil er "nuschelte"; kaum jemand verstand ihn. "Stellen Sie doch ihre Hörgeräte lauter", soll er gemosert haben. Nicht gerade die feine Art, aber vielleicht eine gute Idee: Was man lauter stellen kann, kann man doch bestimmt auch leiser drehen, oder? Das brauche ich, denn die Nächte in Fulda sind lang...

Abends zur Tagesschau-Zeit plätschern weitere Klangwellen durch die Stadt. Bei Festen auf dem Uniplatz und Konzerten im Museumshof vermischen sich professionelle Melodien mit Fan-Gesängen. Manchmal rollt eine mitreißende Musik-Demo durch die Straßen: die Skater-Nacht ist ein rasantes Spektakel, auch zum Zuschauen. Irgendwann mischt sich "Karlchen vom Dach" mit ein. Der "Rooftop-Biergarten" ist eine Stimmungskanone. Was freilich oben chillig oder groovy oder bluesig klingt, hagelt jenseits des Dachgartens als Wummern von Bässen hernieder. Aber um zehn ist ja Schluss, wie in der Jugendherberge.

Das Beste hebt sich die Stadt sowieso bis zum Schluss auf. Die dezenten Hup-Konzerte. Diesen nostalgischen Klang jaulender Autoreifen (klingen die eigentlich auf erhitztem Asphalt noch betörender?) Ach, guck mal, Tempo 30! Was soll das denn jetzt, ihr Spaßbremsen! In Bologna – das ist diese italienische Großstadt unweit des Ferrari-Museums – wurde unlängst für die gesamte Innenstadt Tempo 30 verfügt. Die Polizia stoppte einen Landsmann, der seinen hochgerüsteten Alfa mit mindestens doppelter Geschwindigkeit durch die Gassen steuerte. Der Mann am Steuer war ruckartig auf 180: Tempo 30? Seid ihr stupido? So langsam kann mein Auto gar nicht fahren! Weiter geht’s durch die Nacht. Lauschen wir den aus den Autoboxen dröhnenden Hochleistungs-Rappern, die man nur genießen kann, wenn man alle Regler nach rechts dreht. Und dann sind da noch – etwas leiser, aber musikalisch ziemlich daneben – die Gesänge der zumeist stocknüchternen Nachtschwärmer. Wer denkt da an die Nachtruhe der Krähen? Und wie soll der Täuberich am Morgen wieder seinen Aufgaben nachkommen, wenn er total übernächtigt ist?

Das sind Fragen, so sinnlos wie das Schweigegelübde eines Betrunkenen im Liebesrausch. Seien wir froh, dass Fulda keine Großstadt ist. Und seien wir froh, dass Fulda eine Stadt ist, in der die Musik spielt. Von Kämmerzell zum Beispiel hören wir gar nichts mehr, weil wir dort auf zumutbare Weise gar nicht mehr hinkönnen. Dort hat es den übertüchtigen Straßengestaltern von "Hessen Mobil" (hach, ein listiger Name) gefallen, sich ein Beispiel an der Deutschen Bahn und ihrem Hang zu Strecken-Stilllegungen zu nehmen. Man bittet "alle Verkehrsteilnehmenden um Verständnis". Soso – aber was für ein Verkehr? Was machen 840 mobil eingeschränkte Kämmerzeller in solch einem Sommer? Alle auf einmal in Urlaub fahren? Oder die Abwesenheit von Durchgangsverkehr genießen? Vielleicht sollte der Hessische Rundfunk einen neuen Wettbewerb ausrufen: "Das stille Dorf." Kämmerzell ist unser Favorit! (Rainer M. Gefeller) +++

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