Mer kann sich die Mensche net backe - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
30.05.24 - Wild ist der Westen, schwer ist der Beruf. Können Sie den Refrain aus dieser über 60 Jahre alten Schlager-Klamotte von Gus Backus etwa noch mitsingen? Gab’s in den 60er Jahren nichts Wichtigeres, was man sich hätte merken sollen? Na, egal: Gerade jetzt, wenige Wochen vor der Europawahl, hätten die Texter der überall herumhängenden Wahlplakate genauso gut auf Gus Backus zurückgreifen können – ist doch mindestens so bedeutsam, inhaltsschwer, aussagekräftig und mitreißend wie das, was wir auf Osthessens Plätzen und an den Straßenrändern lesen müssen. Egal, welche Partei sich da einen abgebrochen hat.
Knöpfen wir uns erstmal die SPD vor: "Gegen Hass und Hetze", schreit ein durch und durch sozialdemokratisches Plakat, Weiß auf Rot. Das ist doch voll mutig und total bekennerhaft, hat allerdings einen kleinen Makel: Das ist, als wenn Ford-Sorg für seine Autos mit dem Slogan werben würde: Weg mit Volkswagen. Habt Ihr nichts Positives im Angebot? Aber ja doch: "Für Stadt, Land und Wir-Gefühl." Das könnte auch der Tourismus-Verband der Rhön sich einfallen lassen. Und dann noch: "Für Maß, Mitte und Frieden." Da klingeln einem ja die Ohren vor Begeisterung. Wer hat schon jemals zuvor Mittelstand, Friedensbewegte und die Freunde einer ordentlichen Maß Bier so geschickt in eine Zielgruppe zusammengepfercht?
An einem September-Abend im vergangenen Jahr muss es heckenhoch hergegangen sein im Bundesvorstand der CDU: Geradezu euphorisch sei der neue optische Auftritt der Partei begrüßt worden, "Cadenabbia-Blau" statt des Merkel-Orange, an dem sich die neuen Chefs längst sattgesehen hatten. Cadenabbia musste dieses kühle Blau unbedingt genannt werden, nach dem Sehnsuchts-Ort des großen Christdemokraten Konrad Adenauer. Im Frühjahr 1957 war er das erste Mal am Comer See gewesen, hier tankte er die Kraft, die er fürs Kanzleramt brauchte – auch für den Wahlkampf in jenem Jahr. "Hier in der Provinz Como würde ich mit jroßer Mehrheit jewählt", sagte der Kölner in jenem März einem Journalisten der "Welt". Ein halbes Jahr später eroberten die Unions-Parteien die absolute Mehrheit im Bundestag. Nicht mit Cadenabbia-Blau, sondern mit einer Wahlbotschaft, die die Deutschen überzeugte: "Keine Experimente!" Mit diesem Uralt-Slogan könnte man gerade in der heute so verwirrenden Zeit vielleicht auch noch was reißen – stattdessen: "In Freiheit. In Sicherheit. In Europa." Das hätten auch die Hersteller von Mercedes oder BMW kaum hellsichtiger texten können. Auf manchen Plakaten steht einfach nur "Wohlstand." Oder: "Sicherheit." Oder: "Freiheit." Warum nicht auch noch "Gummibärchen" oder "Weizenbier" oder "Urlaub"? Ach, Meister Adenauer, schau nicht hin auf Deine Ur-Ur-Enkel!
Weiter geht’s: "Machen, was zählt." Was wollen die Plakat-Künstler uns damit sagen? Und für wen soll dieses Floskel-Deutsch nochmal werben? Ach ja, die Grünen, sapperlot. Da werden die Wählerinnen und Wähler ja zu den Urnen rennen vor lauter Begeisterung. Zumal uns ja noch weitere Slogans in Wallung bringen: "Für Einkommen, mit denen alle auskommen." "Nur Demokratie schafft Freiheit." Oder: "Klima schützen. Wirtschaft stärken." Da hätte wirklich keine andere Partei draufkommen können, Respekt!
Und die Liberalen? "Streitbar in Europa."
Das ist die zentrale Aussage der FDP. Darauf hat der Kontinent natürlich gewartet – haben Christian Lindner und seine Getreuen nicht längst den Ruf als Krawallschachteln des Polit-Betriebs weg? Und jetzt schicken sie ihr härtestes, aus einer einzigen Frau bestehendes Kampf-Geschwader in die Schlacht: Agnes Strack-Zimmermann. "Es ist nicht egal. Es ist Europa." Das steht auf einem Schwarz-Weiß-Plakat, dessen Haupt-Botschaft die bedrohlich starrenden Augen besagter Lady sind. Hilfe, Europa – Strazi kommt!
Vergessen wir die Linken, wenden wir uns gleich der anderen Abwrack-Partei der Saison zu. Die Plakate der AfD hängen noch, ihre so genannten Spitzenkandidaten haben wohl Hausarrest. "Für das neue Europa" kämpft der kopflose Haufen. Damit wir, die wir in der Begriffswelt der Ultrarechten nicht so ganz firm sind, begreifen, um was es geht, wird gern noch die Losung dazu gereicht: "Unser Land zuerst." Ja was denn nun? Wir hätten da einen Vorschlag für einen echt ehrlichen Wahlkampf-Spruch: "Europa? Das kann weg!" Oder wie wär’s mit dem hier: "Schön korrupt und Spaß dabei!"
Für die meisten Plakat-Kreationen gilt: Ihre Schöpfer haben wahrscheinlich abgewartet, bis die Ampel-Regierung das Cannabis-Verbot aufgehoben hat. Wir sehen sie richtig vor uns, die Worthülsen-Matadore, bekifft bis unter die Haarwurzeln: Freiheit muss aufs Plakat. Und Sicherheit. Menschenwürde kommt sowieso immer gut. Friede, Demokratie, Klima, Wohlstand – der gesamte Wort-Salat, der den Wählerinnen und Wählern aufgetischt wird. "Schlecht gemacht" findet Prof. Frank Brettschneider, Kommunikationswissenschaftler an der Uni Hohenheim, die meisten Plakate – und das, obwohl sie "das Wahlkampfinstrument Nummer eins" seien. Wahlplakate erreichen laut Brettschneider knapp zwei Drittel des Wähler-Publikums, Facebook und Instagram jeweils nur 30 Prozent.
Brummt Ihnen schon der Schädel? Dann erinnern wir uns doch frohen Sinnes an Heinz-Herbert Karry. 1970, Wahlkampf für den Hessischen Landtag; der listige und bodenständige Herr Karry war Spitzenkandidat der FDP. Mit viel Esprit und allerlei politologischem Klimbim präsentierten mehrere Werbe-Agenturen den FDP-Gewaltigen ihre Vorschläge für die Wahlkampagne. Unmittelbar nach der Präsentation marschierte Karry entschlossen los, rupfte zwei Plakate von der Wand und verkündete, für ihn käme nur eines der beiden in Frage. Dann rief er seine Sekretärin herbei und fragte zum Entsetzen der Werbe-Profis: "Welches nemme wir?" Die Sekretärin hat’s entschieden. Am Wahlabend waren alle überrascht, dass die FDP ihr Ergebnis von 1966 entgegen den Prognosen beinahe hatte halten können.
Der lebenskluge Karry, der 1981 ermordet wurde (vermutlich von Mitgliedern einer Terror-Gruppe), wird gern mal mit folgendem Spruch zitiert: "Mer muss die Mensche nemme, wie se sin: mer kann se ja net backe lasse." Ach was, sollen die Wahlkampf-Strategen sich jetzt etwa auf Rezepte aus dem vergangenen Jahrhundert besinnen und am Ende sogar die Menschen ernst nehmen? Na ja, darauf sollten wir Wählerinnen und Wähler lieber nicht warten. Wir können ja einstweilen dem Ossi Michael Kretschmer zuhören, Regierungschef von Sachsen und gern querschießender Christdemokrat: "Wählt Menschen, die ein Lächeln haben. Wählt gute Menschen." Wird gemacht! Am 9. Juni.
Verkraften Sie noch einen frischen Nachschlag? Merke: Wer schon machtbesoffen herumlärmt, bevor ihm die Wählerinnen und Wähler überhaupt einen eingeschenkt haben, der kann mit einem unangenehmen Kater aufwachen. Wir haben unseren Nachbarn gern zugeschaut, wie sie den Höckes gerade eins vor den Bug gegeben haben. Die Durchmarsch-Phantasien des Geschichtslehrers sind erstmal gefloppt. Danke, Thüringen. Weiter so! (Rainer M. Gefeller) +++