


Wie man Spaltpilze abkocht - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
07.02.25 - Ach, Rio Reiser, wenn Du doch dieses Lied nochmal singen könntest. Dieses wunderbare kindsköpfige Traumlied "Wenn ich König von Deutschland wär". Natürlich mit neuem Text für dieses neue Deutschland. Oder ist etwa gar kein Platz mehr für solche freundlichen, frechen Hirngespinste? Ist die Lage wirklich zu ernst? Sind wir "geschiedene Leute" in einem gespaltenen Land? Hat der böse alte Spaltpilz die Macht an sich gerissen? Nein, Leute, keine Panik! Legen wir die Republik einfach mal unters Mikroskop.
Wo zeigt Deutschland sein ehrlichstes Gesicht? Jawohl, in der Kneipe. Wir hocken in einer Fuldaer Gnadenstätte; ihr Name und der ihrer Gäste werden natürlich diskret verschwiegen. Wir müssen die Menschen doch vor sich selbst schützen; die Beleidigten und Beschimpften bleiben selbstverständlich ebenfalls anonym. Aber vielleicht erkennen Sie ja den einen oder die andere... Am Nachbartisch geht’s hoch her. "Der ist ja blöd wie eine Amöbe", sagt einer. "Bei Deiner Freundin sind doch sämtliche Hirnzellen vertrocknet", sagt der Typ gegenüber. Und dann brüllen sie alle durcheinander: "Höllentor!" – "Lügner!" – "Wendehals!" – "Nazi-Versteher!" – "Grüner Nichtsnutz!" – "Roter Loser!" – "Gelbling!" – "Schwarze Pest!" und dann noch: "Ihr Spaltpilze!"
Die Zuversicht ist futsch
Da ist es wieder, dieses Wort. "Schizomycet" hieß der Spaltpilz bei den alten Griechen, und die haben bekanntlich die Demokratie erfunden. Ist unsere Demokratie gespalten oder steht sie kurz davor? Wir begeben uns in die Krankenstube der Republik. Um den röchelnden Invaliden stehen die Parteivertreter; ihre Diagnosen klingen irgendwie ähnlich. Dem Deutschen Patienten, sagen sie, habe ein ziemlich vielfältiger Bazillenschwarm die Kraft geraubt. Deutschland wirkt auf viele wie eine Karikatur seiner einstigen Tüchtigkeit: Kaputte Straßen, marode Bahn, sterbende Wälder, Klima-Katastrophen. Zu viele Migranten im Land – leider auch solche, die hier nichts verloren haben. Zu wenig Sicherheit. Das Leben zu teuer, die Zukunft "liegt in Finsternis und macht das Herz uns schwer", wie es in einem alten Pfadfinder-Lied heißt. Kriegsangst macht sich breit. Die Zuversicht ist futsch. Der Glaube, dass die von uns gewählten politischen Vertreter es schon irgendwie richten werden, ist ebenfalls weg. Das ist natürlich maximal bescheuert, so kurz vor einer "historischen Wahl".An einem Sommertag des Jahres 1674 in dem kleinen Städtchen Delft, südlich von Den Haag. Dort, in der Hippolytusbuurt 3, wurde der Spaltpilz zum Leben erweckt. Jedenfalls für die Augen und den unermüdlich rotierenden Verstand des Forschers Antoni van Leeuwenhoek. Die Sonne stand günstig, strahlte in seine Werkstatt und rückte ein winziges Lebewesen ins rechte Licht. Durch eine klitzekleine Linse entdeckte der Holländer die noch nie gesehene Welt der Mikro-Organismen. Am 9. September schrieb er an die Londoner "Royal Society", die damals angesehenste Gelehrtengesellschaft der Welt, über seine erste Expedition ins Reich der winzigen Einzeller, "viele kleine Animalcules, einige rund, einige etwas größer und oval." Diese Animalcules waren bunt wie die Welt im Großen, weiße, transparente, grüne mit glitzernden Schuppen, mehrfarbige und aschgraue. "Die Bewegung der meisten dieser Animalcules war so schnell und so variabel, hoch, runter und herum, dass es wundervoll anzuschauen war. Einige dieser kleinen Kreaturen waren über tausend mal kleiner, als die kleinsten Tiere, die ich je gesehen habe, auf der Rinde von Käse, in Weizenmehl, Schimmel und dergleichen." Lange Wochen hockte Leeuwenhoek über dem von ihm selbst gebauten Mikroskop, dem leistungsfähigsten seiner Zeit. Er entdeckte, dass die Animalcules immer mehr wurden, durch einen einfachen Trick: Zellteilung.
In der Stammkneipe werden gerade die Schuldigen gesucht. Ein offenkundig nicht CDU-freundlicher Gast verliest genüsslich einen Kommentar aus der unverdächtigen Fuldaer Zeitung: "Merz gibt wieder den Spaltpilz". Weit kommt er damit nicht. "Und was ist mit BaerBeck?" fragt einer. "Die Scheinheiligsten sind die Sozen", weiß ein anderer. Die FDP kriegt auch eins auf den Pelz – dabei hat der Spaltpilz die Partei doch ohnehin fast zerrissen bei der Abstimmung über das Merz-Gesetz zur Migration am vergangenen Freitag. Marie-Agnes Strack-Zimmermann sagt, sie hätte sich "an der Abstimmung auch nicht beteiligt". Parteifreunde über Parteifreunde: "Nicht mehr alle Latten am Zaun". Ja, die FDP weiß, wie sie ihrem eigenen Spaltpilz Futter gibt. Gleich nach der vergeigten Abstimmung verkündete Wolfgang Kubicki, der Angriffs-Experte der Liberalen: "Ich räume schon mal mein Büro auf." Sein Chef Christian Lindner: "Ich gebe jedenfalls nicht auf." Umfragewert bei Forsa in dieser Woche: 4 Prozent. In der Union mahnen einige, man müsse doch nach der Wahl mit irgendwem aus der Mitte koalieren. CSU-Chef Söder sagt: nicht mit den Grünen. Das sagt Lindner auch – die Grünen hätten "nicht begriffen, dass man die AfD nicht mit Lichterketten klein macht." Wie macht man die denn klein?
Über 300 Jahre nach der spektakulären Entdeckung von Meister Leeuwenhoek in Delft sind nicht mal fünf Prozent aller Bakterienarten bekannt. Diese Spaltpilze sind eine erschreckend effektive Eroberungs-Streitmacht. Die Einzeller verdoppeln sich in rasantem Tempo. In nur 24 Stunden werden aus nur einer der putzigen Zellen, über die der holländische Forscher so verzückt war, 67 Millionen Bakterienzellen. Allein im Mund eines Menschen leben zehn Milliarden Bakterien (ich vermute, es handelt sich um eine Schätzung...) Bei Selbstversuchen entdeckte schon Leeuwenhoek kleine Tierchen überall in seinem Mundraum, die meisten zwischen den Backenzähnen. Eine tröstliche Beobachtung machte er auch: Gab er einen Tropfen Essig in einen mit den Mini-Kreaturen überfüllten Sud, starben die "Thierchen" "sofort". Da haben wir’s doch – so kann man die Spaltpilze abkochen! Flächen desinfizieren, auf denen sich die Spalter breitmachen. Die Mundhöhle gründlich ausspülen, bevor man zu sprechen beginnt. Sollen die winzigen Armeen im Menschen vernichtet werden, greift man mit Antibiotika an. Draußen helfen zum Beispiel hohe Temperaturen, Alkohol oder Chlor. Und was hilft gegen den bedrohlichsten Spaltpilz von allen, die AfD?
Der AfD ist es gelungen, den Spaltpilz ins Herz unserer Gesellschaft zu pflanzen.
Einer der am häufigsten zitierten Gedanken von Friedrich Nietzsche lautet: "Wenn du lange in einen Abgrund schaust, blickt auch der Abgrund in dich hinein." Das kann man übrigens auch aufs Biertrinken anwenden. Und auf die AfD. Wenn man sich mit den Demokratie-Verächtern abgibt, kann man sich leicht infizieren. Die Bazillenschleudern von rechts außen impfen die Gesellschaft mit ihrem Gift und ihrer Verachtung, mit ihren Lügen und ihren Tricks – und indem sie unsere Schwächen ausschlachten. Die demokratischen Parteien haben es den Staatsverächtern leicht gemacht. Vor allem durch schlechtes Regieren und feindseligen Umgang miteinander. Aber auch, indem der "Alternative" zu viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Der AfD ist es gelungen, den Spaltpilz ins Herz unserer Gesellschaft zu pflanzen. Da muss er wieder weg. Das kann doch nicht so schwer sein!
Atemlos wartet die politische Kaste auf das Urteil des Volkes. Noch zwei Wochen. 59 Prozent der Befragten haben den Meinungsforschern von Forsa soeben eröffnet, dass sie das Zusammengehen von Merz mit der AfD falsch fanden. 60 Prozent der Unions-Anhänger allerdings fanden’s richtig. Viele fürchten, dass der Spaltpilz die demokratische Mitte schon derart zerrissen hat, dass nach der Wahl gemeinsames Regieren kaum möglich ist. Zwei Drittel der Deutschen urteilen, die demokratischen Parteien seien nicht mehr kompromissfähig. Aber was! Den Triumph werden wir der Alice Weidel ja wohl nicht gönnen.
Derzeit zerreißt der politische Spaltpilz nicht nur Parteien, sondern auch Vereine, Familien und Stadtgesellschaften. Machen wir’s den verkrachten Existenzen in der Politik vor, nehmen wir uns ein Beispiel an der Kneipenrunde. "Mund abputzen, weitermachen" rät einer der ineinander verkeilten Politik. "Oli Kahn hat das gesagt", meldet ein anderer, "der weiß Bescheid." Die Kneipengänger haben inzwischen längst ihre Hassgesänge eingestellt und den gemeinsamen Spaß an Rio Reisers "Kaiser von Deutschland" entdeckt. Das Lied ist derart häufig neu getextet und persifliert worden, dass man leicht den Überblick verlieren kann. Gar nicht lange her, da hat die eigentlich unlustige Satire-Show "Extra 3" dem mutmaßlichen Nachfolger von Olaf Scholz eine Fassung übergebraten, und die geht so:
Mein Feingefühl, das ist ein Gedicht.
Wenn ich erst an der Macht bin
Gibt’s nur: mich, mich, mich.
Ich bin Friedrich der Erste
Und auch noch der Zweite.
Das alles und noch viel mehr
Würd ich machen,
Wenn ich Kanzler von Deutschland wär.
Wollen Sie nochmal den echten "König von Deutschland" von 1994 erleben? Hier geht’s lang: https://www.youtube.com/watch?v=cWkBRs_BJAs (Rainer M. Gefeller) +++
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