


Morgens um Sechs - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
23.05.25 - Halb sechs Uhr in der Innenstadt. Ein Putzauto fegt wie bei einem Go-Kart-Rennen den Rinnstein entlang. Eine Ratte flüchtet vom Alten Jüdischen Friedhof – seit die Bagger hier alles plattgemacht haben, gibt’s sowieso keine Essensreste mehr. Vor der Bäckerei Storch befreit eine Frau die Sitzgruppen von ihren Anti-Diebstahls-Ketten. Hinter einer Häuserecke hört man das Kratzen eines Gehweg-Fegers. Ein schlaksiger Mann wird von seinem Yorkshire-Terrier in ein Gebüsch gezerrt. Die Vögel werden minütlich lauter. Unterm Vordach eines Drogerie-Geschäfts schläft ein Obdachloser. Eine Krähe bedient sich aus einem Pizza-Karton. In einigen Chefetagen zeugen die grellen Bürolampen von der Tüchtigkeit unserer Führungskräfte. Was ist los in unserer Stadt, wenn die meisten Menschen sich noch unter ihre Bettdecken kauern? Ist es schön da draußen, wenn’s uns dämmert? Ist es gesund, so früh aus der Haustür zu treten?
Viertel vor sechs. Drehen Sie sich ruhig nochmal zur Seite. Die Augen verklebt, die Lippen trocken wie Paniermehl, die Haare hängen schief: so sieht’s aus in unseren Betten. Aber auf Gleis 1 des Fuldaer Bahnhofs steht schon der "Regionalexpress" RE50 nach Frankfurt unter Dampf. Fauchend schieben sich die Türen auf und knallen gleich wieder zu. Die ersten Fahrgäste haben sich ihre Plätze gesichert, manche schlafen wieder. Abfahrt ist erst um 6:06 Uhr. Vorm Bäcker Pappert in der Bahnhofshalle, seit 5 Uhr geöffnet, steht eine Menschen-Schlange. Die Bahnhofstraße runter sammeln sich die Lastwagen der Lieferanten. Ins Tegut-"Quartier", ebenfalls seit einer halben Stunde offen, hat sich eine Taube verirrt. Ein Mitarbeiter fegt sie mit dem Besen ins Freie. Huch, was für ein Abenteuer in der Frühe!
"Morgendämmerung und ein Himmel wie kalter Haferbrei." So beginnt ein Roman, dessen Titel jeder kennt: "Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung" von Eric Malpass. Stimmt das? Für viele, denen ihre Tüchtigkeit der zentrale Lebenszweck ist, ganz bestimmt. Für manche Manager, schreibt der SPIEGEL, ist Schlafen "etwas für Loser. Sie dagegen ackern die Nacht durch und protzen mit ihrer Schlaflosigkeit." "Frühaufsteher machen Karriere", weiß der Biologe Christoph Randler von der Uni Heidelberg. Zuviel Schlaf ist nicht nur Zeitverschwendung, sondern sogar Sünde, sagen manche, vor allem protestantische, Arbeits-Ethiker. Der kanadische "Motivationscoach" Robin Sharma hat einen "Fünf-Uhr-Club" gegründet. Wer da Mitglied ist, stellt den Wecker auf 5 und legt nach dem Bimmeln sofort los – erst ein bisschen Fitness, dann den Tag planen, Kaffee im Stehen, Nachdenken, und ackern, bis die Hirnzellen heiß laufen. Michelle Obama, Heidi Klum, Apple-Chef Tim Cook sind angeblich auch schon so früh am Start. Die Schlafforscherin Christine Blume hält gar nichts von diesem Morgen-Diktat: "Früh aufstehen wird oft als Schlüssel zum Erfolg verkauft. Das ist natürlich Quatsch. Laut Studien geht nur eine von 100 Personen gerne um 21 Uhr schlafen und steht um 5 Uhr auf."
Noch in der Nacht sowie am frühen Morgen sind die Flaschensammler unterwegs, Sendboten der Not. Die meisten wollen nicht gesehen werden, wenn sie für ein paar Cent Pfand in den Abfallkörben wühlen. Einer ihrer Kollegen, den wir auch tagsüber treffen, amüsiert sich: "Wie kann man nur bares Geld in den Müll werfen." Die Männer, die die Stadt sauber halten, fahren mit ihren Kleinlastern die Grünanlagen ab. Auf den Ladeflächen sammelt sich der Dreck der Nacht. Flaschen, Flaschen, Flaschen. Pizzakartons und Döner-Teller. Hunde-Kotbeutel. Autoreifen. Einkaufswagen. Kleidung. Was man halt nicht mehr braucht. Manchmal besucht einer der Stadt-Bediensteten einen Verwandten in Frankfurt. Der führt ihn gern in den Grüneburgpark, wo sich die Hinterlassenschaften des Vorabends zu Müllbergen türmen. "So schlimm ist es bei uns wirklich nicht", sagt er – obwohl er natürlich empört ist über die nächtliche Wegwerf-Gesellschaft in Fulda.
Die Sonne scheint überall gleich, sollte man denken. Das sieht der Allerwelts-Philosoph Peter Sloterdijk aber ganz anders. In Berlin, wo der Früh-Denker jetzt lebt, ist ihm die "Vormittagsmystik" abhandengekommen, die er noch in Karlsruhe erlebt hat. Er schwärmt von "golddurchschienenen, hellgrünen Blättern" auf der anderen Seite seines Fensters; die hätten ihn ermuntert, "kleine Naturgedichte" zu verfassen, um "die hellen Stimmungen zu beschreiben". Ja, warum bleibt er denn dann in der unterkühlten Hauptstadt? Soll er mal achtgeben, dass ihn nicht der Morgenblues überfällt: Wer zu Depressionen neigt, berichtet uns Sabine Köhler vom Berufsverband Deutscher Nervenärzte, wird vor allem in der Frühe heimgesucht. "Erstaunlicherweise fühlen sich manche Betroffene in den Nachmittags- und Abendstunden wieder gesund und gut leistungsfähig."
Für erfahrene Brötchen-Käufer gilt: Immer einkaufen gehen, bevor die Schüler kommen. Vorm Tegut am Bus-Bahnhof stehen manche ab zehn vor sieben Schlange, dann öffnen sich die Glastüren. Vorm Happ am Uni-Platz ist ab halb acht Gedränge; hier besorgen sich die Schüler der Dalberg-Schule nebenan ihren Pausen-Snack. Anderthalb Stunden vorher steht Bianca Zinkand vor der Bäckerei Storch an der Bahnhofstraße, gießt Blumen und wischt die Spuren der Nacht weg. Gleich um sechs wird der Laden offen sein; sie ist schon seit 4:30 Uhr da. "Ich arbeite gern in der Frühschicht", sagt sie. Die Brotregale sind schon gefüllt Morgenmuffelei kann man sich in ihrem Job kaum erlauben: die Kunden bleiben nur treu, wenn die Brötchen gut gelaunt serviert werden. Gegenüber liegen zwei Obdachlose unter ihren Deckenstapeln. An Treppenaufgängen und unter Vordächern schlafen manche von ihnen. Ein Mann, den ich später bei seinem kargen Frühstück wieder sehen werde, hat seinen gesamten Besitz um sich versammelt: ein monströses Fahrrad, behängt mit löchrigen Packtaschen. Eine brüchige Reisetasche. Eine große Tüte voller Pfandflaschen. Kleinere Tüten... Gleich treffen sich einige Bettler, allesamt Osteuropäer, zu einer Art Frühkonferenz, bevor sie ihre festen Plätze ansteuern. Am Busbahnhof. Vor der Sparkasse. An der Bahnhofstraße. Am Uniplatz...
Die Krähen lärmen herum, Tauben treiben mit sichelndem Flügelschlag ein wenig Frühsport. Richtig Krach entfalten die Rollkoffer-Brigaden auf dem Weg zum Bahnhof. Und die Laubbläser, die Jagd auf heruntergewehte Blüten machen. Wenn man lieber einem angenehmen Konzert lauschen will, muss man noch früher aufstehen und sich in die Stadtparks vorarbeiten. Am heutigen Freitag ist die Sonne um 5:23 Uhr aufgegangen. Eineinhalb Stunden, bevor sie sich blicken lässt, hat schon der erste Vogel losgezwitschert – der Gartenrotschwanz. Zwanzig Minuten später: der Hausrotschwanz. Eine Stunde vorm Sonnenaufgang: die Rauchschwalbe trillert und schnurrt, fünf Minuten später meldet sich die Singdrossel, nach weiteren fünf Minuten Kuckuck und Rotkehlchen. Der Vogelkundler Paul Wernicke, Leiter der Wildnisschule Hoher Fleming, erklärt uns: "Jeder Vogel hat seine ausgewählte Zeit", aber irgendwann zwitschern sie alle im Chor. Dieser stimmliche Höhepunkt bewegt sich mit dem Sonnenstand um den Erdball. "Das ist wie eine Welle an Sound, die einmal um den Globus herumgeht. Mit kurzen Pausen – da, wo die Weltmeere sind..." Übrigens: Lerche und Amsel melden sich 45 Minuten, der Zaunkönig 40, die Blaumeise 35, der Star 15 und der Buchfink zehn Minuten vorm Sonnenaufgang. Wenn Sie’s nicht so früh nach draußen schaffen oder sowieso der Meinung sind: der frühe Vogel kann mich mal – dann besuchen Sie doch bequem die NABU-Vogeluhr, und zwar hier: https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/voegel/vogelkunde/voegel-bestimmen/20663.html
Was wäre bloß, wenn die Sonne plötzlich weg wäre? Schon acht Minuten später, haben Wissenschaftler berechnet, geht auf der Erde das Licht aus: Sonnenfinsternis. 8 Minuten. So lange braucht das Sonnenlicht bis zur Erde. Nach einer Woche frieren wir, dann ist die weltweite Durchschnittstemperatur von 15 Grad runter auf Null. Ein Jahr später: Durchschnittstemperatur unseres Planeten minus 75 Grad. Auf den Meeren kann man schlittschuhlaufen. Das letzte bisschen Wärme kommt noch aus den Quellen, die aus dem Erdinneren erhitzt werden. Zehn Jahre später: Die Erde ist ein Eisklumpen.
Liebe Sonne: bleib mal lieber und heiz uns ein. Den Kaninchen in der Johannisau, die schon vorm ersten Lichtstrahl hin und herwetzen wie aufgedrehte E-Mobile. Den Mäusen, die auf den Feldern herumwuseln – aber Vorsicht: zack, ist der Bussard da. Den Rehen, die hin und wieder in den Vorgärten nach dem Rechten schauen. Zum Beispiel in Künzell, wo sie übrigens auch schon mal gefahrlos über den Friedhof schlendern dürfen. Kurz vorm Sonnenaufgang leuchtet der Dom wie eine gigantische Filmkulisse. In der Propstei Johannesberg blitzen und blenden die Fenster rot und gelb, als würde dort in allen Sälen ein Fest gefeiert. Über der Wasserkuppe und der Ebersburg glüht der Himmel. Und was machen wir? Wir Schnarchnasen vergraben unser Gesicht unterm Kopfkissen. Aufstehen! Die größte Morning-Show der Welt kostet nix, ist unvergesslich und macht glücklich. Probieren Sie’s mal! Am besten Sie fangen gleich nächste Woche damit an, dann sollen die Wolken sich wieder verflüchtigt haben.
Bevor wir uns jetzt gleich gemeinsam den Frühstücks-Klassiker "Morning Has Broken" in der Fassung von Cat Stevens anhören, stehen wir nochmal stramm für all jene, die schon Feierabend haben. Für die Menschen in den Backstuben, Krankenhäusern, Feuerwachen, Polizei- und Rettungsstationen. Für Lkw- und Busfahrer, Lokführer, Schichtarbeiter. Und ein bisschen auch für jene, die wieder mal die Nacht durchgemacht haben. Schlaft gut!
Und hier gibt’s Cat Stevens: https://www.youtube.com/watch?v=DmAOBosGlHY (Rainer M. Gefeller) +++
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