

Dann geht doch nach Kassel! - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
20.06.25 - Verehrte Damen und Herren, Hand aufs Herz: Sind Sie unglücklich? Dann packen Sie doch einfach Ihren Rucksack. Oder wenigstens die Badetasche. Oder wollen Sie sich nicht gleich eine neue Mietwohnung suchen? Wir haben doch alle gelesen, wo Deutschlands glücklichste Menschen leben. Jawohl, in Kassel, in der Stadt der Märchenerzähler, alten Würste und hemmungslosen Kurfürsten. Also: Auf nach Kassel – dort wo Frauen und Männer, Kinder und Alte total happy sein sollen. Was haben die, was wir nicht haben? Das werden wir schon rauskriegen!
Fahren wir doch einfach mal hin. Einstieg am Bahnsteig 6 in Fulda. Falls der ICE pünktlich ist und tatsächlich aufbricht, braucht er für die 85 Kilometer nach Kassel nur eine halbe Stunde. Rausgucken lohnt sich kaum: weit über die Hälfte der Strecke ist untertunnelt. Die längste Röhre, 7.375 Meter lang, schluckt den Zug gleich hinter Fulda: der Dietershanertunnel. Augen zu und durch.
Der Mensch aus Kassel ist vielen Fuldaern ein unbekanntes Wesen. Dabei sollten wir uns doch an einige von ihnen erinnern. Die Brüder Grimm. Holger Börner. Hans Eichel. Die Ahle Wurst. Milky Chance. Und Jana. Schon vergessen? Jana aus Kassel – das war doch das verstörte Mädel, das sich im November 2020 auf einer "Querdenker"-Demo mit der von den Nazis ermordeten Sophie Scholl gleichsetzte. Weil sie ja auch eine Widerstands-Kämpferin sei, gegen die Corona-Maßnahmen. Klingelt’s? Jan Böhmermann ließ im ZDF einen Spottvers hören: "Ich bin aus Kassel hergefahr’n, um Euch vor der Diktatur zu warn‘". Damals gab es in ihrer Heimatstadt einen Autokorso für "unsere Jana". Elf Karossen fuhren hupend durchs Zentrum. Die übrigen KS-Bürger waren vermutlich einfach zu glücklich für solchen Blödsinn.
Unter den deutschen Großstädten ist Kassel nur ein Schrumpfriese: ungefähr 197.000 Einwohner, Platz 40 der deutschen Metropolen. Das Allensbach-Institut hat im Auftrag der Süddeutschen Klassen-Lotterie (SKL) das Glücksgefühl in 40 der 79 Großstädte über 100.000 Einwohner erforscht. "Die höchste Lebenszufriedenheit", schreibt die SKL, "findet sich dort, wo das Leben familiär, überschaubar, sicher und grün geblieben ist." Na sowas; da können wir in Fulda doch locker mithalten. Zumal Kassel bei den objektiven Kriterien eher durchschnittlich abschneidet: Infrastruktur, Bildung, Gesundheitswesen und sogar die Kultur (trotz Documenta) sind eher durchschnittlich. Auch der umtriebige Prof. Bernd Raffelhüschen von der Uni Freiburg, "wissenschaftlicher Leiter" der Studie, ist baff, dass Kassel zum zweiten Mal auf Platz 1 dieses Rankings landet. "Beim Einkommen, den Vermögensverhältnissen, der Gesundheitsvorsorge und dem Image würde Freiburg Kassel immer schlagen." Glück sei jedoch "nicht objektiv". Für die Kasseler sei es einfach nicht schlimm, dass sie weniger verdienen als andere. Und dass sie in der dritt-lautesten Stadt der erforschten Kommunen leben.
Im September 1880 ließ der französischen Noch-Kaiser Napoleon III. auf der Zitadelle von Sedan eine weiße Fahne hochziehen – die Kapitulation vor der Übermacht der preußischen Streitmacht. Preußens Wilhelm überließ ihm Wilhelmshöhe als Zwischen-Quartier. Als der Salonwagen mit dem Verlierer an Bord durch Aachen rollte, rief ihm die triumphierende Bevölkerung auf dem Bahnhof hinterher: "Ab nach Kassel!" Das klang so, als würde der gescheiterte Monarch echt in die Wüste geschickt. Der Mann ist längst Geschichte, der Spruch lebt weiter und bedeutet: Verschwinde, und zwar dorthin, wo keiner hinwill.
Wir landen im "Willi-Bahnhof", ein Monstrum verkehrstechnischer Bau-Kunst. Der ICE ist sogar pünktlich, wir strunzen durch die Stadt. Der Herkules ist nirgends zu übersehen, aber was gibt’s hier sonst noch? Wir erkunden das Straßengewirr rund um den Bebelplatz. Herrliche Gründerzeit-Villen. Kindergärten an gefühlt jeder dritten Straßenecke. Eissalons, Gartenkneipen, Bürgersteig-Restaurants, Parks. Schön hier, ein Hauch von Prenzlauer Berg. Aber kommen die glücks-beduselten Einwohner von hier jemals dorthin, wo das Herz der Stadt schlägt? Wir schauen in der Königstraße vorbei. Die von klotzigen Nachkriegs-Bauten flankierte "Shopping-Meile" ist selbst der Heimat-Zeitung HNA peinlich; richtig Stress gebe es dort, klagt die HNA, wenn die unentwegt durch die Fußgängerzone polternden Straßenbahnen die bummelnden Menschen aufscheuchen. Hässlich hier.
Natürlich zieht es den Fuldaer in die Fulda-Aue. Auch hier brummt es. Die Fulda ist in Kassel ein richtiger Fluss. Die Strände des BUGA-Sees sind gepackt voll, überall qualmende Grills, Freizeitsportler dehnen ihre Muskeln, auf den Parkbänken teilen sich knorzige Herren brüderlich ihre Bierdosen. Gemütlich hier, aber: die Aue in Fulda macht glücklicher. Das über 40 Jahre alte Gelände in Kassel wirkt neben unserer Auen-Landschaft wie ein verlebter alter Kerl. Bei uns ist die Fulda-Aue seelenvoller, gepflegter, einladender. Das Wasser ist hier, nur dreißig Kilometer von der Quelle entfernt, gewiss frischer als im Norden. Und, übrigens: das Einkaufs-Erlebnis ist in Osthessen an beinahe jedem Fleck verlockender als in der Kö des Nordens. Echt jetzt, ist Fulda nicht auch ein Kandidat für den Glücks-Atlas?
Die Menschen aus Kassel pflegen ein hartnäckiges Kasten-System. Ganz oben stehen die Kasseläner – das sind die, die mindestens in zweiter Generation mit dieser Großgemeinde verwachsen sind. Sie haben den Ruf, gern unter sich zu bleiben und Einwohner mit weniger Kassel-Geruch nicht riechen zu können. Sie beherrschen sogar einen eigenen Dialekt. "Mäh sin Mäh." Das klingt doch verdächtig nach der Sprachgewalt unserer geliebten Rhönschafe, heißt aber auf deutsch: "Wir sind Wir!" Wenn uns der Kasseläner, der sich seiner sprachlichen Verirrung wegen gern selbst lobt, beleidigen will, brauchen wir uns einfach nur blöd zu stellen: Hoch- und andere Deutsche verstehen sowieso kein Wort. Schauen Sie selbst: "Blosenkobb" – Dummkopf mit `ner Blase im Kopf. "Grindkobb" – ein übellauniger Mensch. "Bärrelorsch" – Bettelarsch, ein armer Knopf. "Schäßarsch" – Angsthase. "Babbsack" – Dickwanst. "Kotzbiedel" – jemand, der dauernd hustet. (Beispiele aus Werner Guths Kasseler Vokabel-Aufstellung "Kopf und Arsch und anderes"). Zu den Kasseler Kasten zählen außerdem die Kasselaner. Die sind zwar auch in Kassel geboren, ihre Eltern aber nicht. Das zählt also nicht viel. Ganz unten vegetieren die Kasseler, das sind Zugezogene. Ob die hier auch ihr Glück finden?
"Aus dem hessischen Kinderzimmer auf die Bühnen der Welt." Die FAZ hat ihre Verwunderung über den Erfolg der Kasseler Schulfreunde Philipp Dausch und Clemens Rehbein immer noch nicht überwunden. "Unten am Fluss", schrieben Milky Chance in einem ihrer ersten Hits, "wurde ich von deiner Anmut angezogen". Da können sie doch nur die Fulda gemeint haben, oder? Gleich gegenüber von der Fulda-Aue, im Kulturzentrum K19, spielten sie ihre ersten größeren Konzerte. Clemens Rehbein schrieb die ersten Songs, man sieht ihn im Musikvideo mit Klampfe und unverwechselbarer Frisur neben einer Topfpflanze. Die Nordhessen-Metropole grüßt den Rest der Welt. Ein Musik-Manager wunderte sich: "Das klingt überhaupt nicht nach Kassel." Sollte heißen: kein bisschen provinziell, sondern ziemlich amerikanisch-entspannt. Zwei Musik-Nasen aus Nordhessen, die zur erfolgreichsten englischsprachigen deutschen Band wurden. "My home is my Kassel", werden sie vielleicht immer noch sagen, auch wenn sie längst in Berlin leben. Aber auch dort gilt weiterhin das Kassel-Gesetz: Einmal Kasseläner, immer Kasseläner. Lebenslänglich!
Die Fuldaer lassen sich nicht gern herumkommandieren. Aber in Kassel gab es den Kurfürsten; der befehligte nicht nur die Bürger seiner Stadt, sondern auch den Rest von Hessen. Seine Kasseler Großmächtigkeit war zugleich auch Großherzog von Fulda sowie Fürst von hier und Graf von dort... So schrullig die Titel-Anhäufung heute klingt, so sonderbar waren etliche Titelträger. Kurfürst Wilhelm I, 1743 bis 1821, war der eigenartigste. Geldgeil, machthungrig, sexbesessen. Superreich, eine Art Westentaschen-Trump seiner Zeit. Laut einer Biographie von 1898 "eine der berüchtigsten Fürstengestalten der deutschen Geschichte". Verschacherte die eigenen Untertanen als Soldaten an die Engländer. Presste den letzten Heller aus seinen Untertanen. Der Mann war derart rückwärtsgewandt, dass er nach überstandener napoleonischer Herrschaft die gepuderten Perücken bei Hofe und beim Militär wieder einführte. Mit seiner Ehefrau hatte er vier Kinder. Das schien ihm wohl etwas dürftig. Von drei seiner Mätressen ließ er sich mit 25 weiteren Töchtern und Söhnen "beschenken" – und versorgte die eigene Brut mit Posten und Pöstchen jedweder Art.
In der Verachtung für das blaublütige Scheusal dürften sich Ost- und Nordhessen einig sein. Also vertragen wir uns einfach. Kasseler, ab sofort könnt ihr uns mal gernhaben. Und wir euch auch. Schwamm drüber. Oder wie die Brüder Grimm sagen würden: Es war einmal... Wir haben sogar ein Angebot für euch: Auf nach Fulda! Dorthin, wo das Glück wirklich seine Heimat hat. Wenn sich nur 30.000 Kassel-Bewohner bei uns einnisten würden, wäre Fulda plötzlich auch Großstadt (ganz ohne Eingemeindung von Künzell und Petersberg). Und natürlich wären wir im nächsten Glücks-Atlas die Nummer 1. Das ist so sicher, wie das Kasseler Kotelett nicht aus Kassel stammt.
Zur Erholung zwei Songs von Milky Chance auf YouTube. "Down By The River": https://www.youtube.com/watch?v=qlGQoxzdwP4
Und "Stolen Dance", der Welthit mit Topfpflanze: https://www.youtube.com/watch?v=iX-QaNzd-0Y&list=PLcEnw0tzc81WZyxTpWqQl1E2ACgadHRoB (Rainer M. Gefeller) +++
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