Mein Täubchen, zeig dein Gesicht - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
15.11.24 - Den November braucht echt kein Mensch. Nasse Kälte, Dunkelheit, Nebel, tote Blätter kleben unter den Schuhen. Frühaufstehern fehlt vor allem das Hallo-Wach-Konzert des Morgens: Kein Gezwitscher, so viele Vögel sind futsch. Freilich: nicht alle. Die Krähen scharren irgendwo rum und glotzen uns an, als wären wir bald Futter. Aber halt: da oben auf dem Dach, und gleich daneben auch – die Tauben sind noch da. Wer sie mag, denkt: Wie halten die das aus, wenn ihnen die Kälte in den Bürzel fährt? Die Tauben-Verächter denken natürlich: Ausgerechnet diese Schmutzvögel treiben sich noch hier rum. Tja. Die einen lassen sie auf Friedenfesten in den Himmel steigen, die anderen wollen sie massakrieren.
Drosseln, Stare, Schwalben, Kraniche, Kiebitze, Störche, Gänse, Kuckucke sind längst weg. Selbst die Nachtigall hört man nicht mehr trapsen; singen erst recht nicht. Die Hälfte der heimischen Vogelarten sind Zugvögel, jedes Jahr sind zwischen Europa und Afrika fünf Milliarden fliegende Vagabunden unterwegs. Zu futtern gibt’s eh nichts mehr – die Insekten sind hinüber oder verstecken sich hinter Baumrinden, Kröten und Frösche überleben im Winterschlaf. Ist es da nicht schön, dass wenigstens die Täubchen bei uns bleiben? Sind doch wirklich hübsch anzusehen, mit ihren kleinen Köpfen und den großen Kröpfen. Flinke Flieger sind sie obendrein, elegant im Auftreten (speziell, wenn die Herren um die Ladies balzen). Nur ihre musikalischen Fähigkeiten sind eher dürftig: ein ranziges Gurren anstelle der melodischen Zwitscherei.
Tauben sind einfach zu tüchtig Straßentauben machen sich gern dort breit, wo die Menschen wohnen. Logieren an Wohnhäusern, Fabriken, Dachräumen; überall dort, wo die Baumeister ihnen Lücken gelassen haben. Sie vermehren sich bis zu viermal im Jahr, und jedes Mal legen die Taubenmütter zwei Eier ins Nest. Für Nachwuchs ist also gesorgt. Viele Städte klagen: die Tauben sind einfach zu tüchtig. Futter gibt es genug. Zum Beispiel am Fuldaer Uniplatz, wo mitfühlende Einwohner sie mit Brotkrumen und anderen Leckerbissen versorgen. Der Rest liegt sowieso überall rum, und alles, alles wandert in ihren Schlund – sogar Schokolade, Äpfel, Speckschwarten sowie Abfälle jeder Art und kleine Schnecken, sofern die nicht schnell genug flüchten können. Wer das Gurren mag, hört mehr als genug davon, zum Beispiel auf dem Bahnhofsvorplatz in Fulda. Oder gleich nebenan am Zentralen Omnibus-Bahnhof (ZOB). Und auf jedem anderen Platz, auf dem sich auch die Menschen wohlfühlen.
Irgendwann in den 80er Jahren. Der damals angesagte Restaurantführer Veronelli hatte uns in ein Fernfahrer-Restaurant in der Toskana geführt. Dort gab es nur einen handgeschriebenen Zettel mit dem Speisen-Angebot. "Was bedeutet Piccione?", fragte ich die Kellnerin. Die lachte mich aus und gab die Frage weiter an die rumorenden Gäste: Kann einer dem Tedesco mal erklären, was Piccione sind? Jetzt lachte die ganze Hütte, dann kam einer an den Tisch. "Venezia", sagte er und hob den Zeigefinger wie ein altmodischer Grundschullehrer. Weiter ging’s: "Piazza San Marco, okay?" Ich nickte. Dann ließ er die Arme flattern wie ein Vogel, tanzte um sich selbst und gurrte: "Ruh-Ruh. Ruh-Ruh!" Die Kneipe war ganz außer sich, ich natürlich auch. Was soll ich sagen: Das Täubchen, frisch aus dem Ofen, hat geschmeckt.
Taubenhaus
Der Markusplatz in Venedig gilt unter Tauben gewiss als Paradies auf Erden. Die dortige Stadtregierung freilich hat der Invasion der aufdringlichen Vögel den Kampf angesagt. Nistplätze an Mauern und Dächern werden versiegelt. Wer Tauben füttert, muss mit einer Geldstrafe von bis zu 500 Euro rechnen. Hat’s was genützt? Wohl kaum... Venedig ist längst überall, auch in Fulda. Häuser-Fassaden und Simse werden gern als Abtritt benutzt, vor allem Sandstein hält der Ätz-Kacke nicht stand. Unansehnliche Kotflecken auf Bürgersteigen und Plätzen sieht man allenthalben, vor allem aber rund um den ZOB: Fahrkartenautomaten, Treppen, Sitzbänke – alles ist verkleckert. Eigentlich sollte schon 2015 ein "Taubenhaus" die Vögel in die Fuldaaue locken. Das 70.000 Euro teure Bauwerk zur Geburtenkontrolle sollte die Tauben aus der Innenstadt fortlocken, tat es aber nicht – echte Stadt-Tauben bleiben lieber dort, wo mehr Leben ums sie rum ist. "Das Tauben-Management der Stadt geht gegen Null", wetterte vor einem Jahr Nicole Hinzmann-Kropp vom Tierschutzverein Hayriye Er. Der Fuldaer Bürgermeister Dag Wehner indes verwies Ende Oktober in der Stadtverordnetenversammlung darauf, den Tauben werde es so ungemütlich wie möglich gemacht. Das Füttern ist in der Innenstadt verboten. Dächer werden zum Beispiel über den Bus-Haltestellen mit "Tauben-Spikes" gespickt; da fühlt sich kein Vogel mehr wohl. Reinigungsgruppen schrubben den Tauben-Unrat weg. Die Frankfurter Tierschützerin Gudrun Stürmer beklagte schon vor Jahren, Tauben würden nur noch als parasiten-strotzende Plage betrachtet, ein Absturz "vom heiligen zum verhassten Tier".Da sagt sie was. Müsste sich in den christlichen Kirchen nicht irgendjemand räuspern – ist nicht die Taube DAS Symbol für den Heiligen Geist? "Kaum war Jesus getauft und aus dem Wasser gestiegen, da öffnete sich der Himmel, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube auf sich herabkommen." So steht es in der Bibel, Matthäus 3, 16-17. Und bei Lukas 3, 22 wird bekräftigt: "Der Heilige Geist kam sichtbar auf ihn herab, anzusehen wie eine Taube." Im Barock war es üblich, zu Pfingsten in den Kirchen Tauben auffliegen zu lassen. Und im Alten Testament, im "Hohenlied" 2/14, schwärmt jemand: "Verbirg dich nicht vor mir wie eine Taube, die sich in einem Felsspalt verbirgt. Mein Täubchen, zeig dein liebliches Gesicht."
Brieftauben
Am 18. Juni 1815 haben Tauben die Nachricht vom Sieg in der Schlacht von Waterloo – und damit das Ende von Napoleon Bonaparte – an die britische Regierung übermittelt. Die navigationssicheren Vögel wurden als schnellster Postdienst und in vielen Kriegen als eine Art natürlicher Drohnen eingesetzt. Bis Telegraphie und Telefone sie überflüssig machten. Seit 1860 sind Tauben überdies als "Rennpferd des kleinen Mannes" vor allem im Ruhrpott die Helden des Brieftauben-Sports. Was können solche Brieftauben eigentlich? Irgendwo, oft viele hunderte Kilometer entfernt von ihrem Heimatschlag, werden sie freigelassen, um nach Hause zu fliegen. Was ist ihr Geheimnis? Wie kommen sie von einem unbekannten Ort nachhause? Sie gleiten über unbekanntes Land, nutzen den Stand von Sonne und Sternen sowie das Magnetfeld der Erde – aber wie genau sie ihr Ziel ansteuern, ist immer noch nicht wirklich erforscht. Und ob sie überhaupt lebend durchkommen, hängt davon ab, ob sie Habicht und vor allem Wanderfalken entkommen.Gar nicht weit weg von uns, im nordhessischen Witzenhausen, hat der Brieftaubenzüchter Hartmut Lachner neun Monate lang auf seinen achtfach preisgekrönten Starvogel gewartet. Er war in Budapest zu einem Wettflug aufgebrochen, nach wochenlanger Warterei war der Züchter sicher: Das Tier ist nicht mehr. Aber dann war der Täuberich doch wieder da, ein Glücksfall für Mensch und Tier – und ein kleines Wunder. Denn in der Zwischenzeit war der Taubenschlag abgebrannt, auch der Rumtreiber wäre verendet.
Mitte der Fünfziger Jahre sang der Österreicher Georg Kreisler eines seiner fiesesten Lieder: "Tauben vergiften." Ein kleiner Textauszug gefällig? Na gut:
Ja, der Frühling, der Frühling, der Frühling ist hier
Geh ma Tauben vergiften im Park
Kann's geben im Leben ein größres Plaisir
Ois des Tauben vergiften im Park
Ganz schön pervers, gell? Aber in Limburg (700 Tauben in der Innenstadt) ist man noch unbarmherziger. Dort sollte bekanntlich ein Falkner die Tiere einfangen und betäuben, um ihnen sodann das Genick zu brechen. In einem Bürgerentscheid haben die dortigen Eingeborenen den Beschluss ihres Kommunal-Parlaments in diesem Sommer sogar mehrheitlich bestätigt. Da ist die Humanität Fuldas echt zu preisen. Vielleicht sollte die Friedensbewegung der Stadt Respekt bekunden. Schließlich ist die Taube deren Symbol, seit eine Lithographie Pablo Picassos – weiße Taube auf schwarzem Grund – 1949 zum Plakatmotiv für den Pariser Weltfriedenskongress wurde.
Kann man den Vögeln nicht einfach entspannt begegnen? Doch, einer zumindest konnte das – der leider vor zwei Jahren verstorbene Günther Elm. Der begnadete Karnevalist und leidenschaftliche Fuldaer hatte sogar für die Tauben einen fuldischen Spruch parat: auf die Frage eines Fremden, was das denn wohl für weiße Flecken auf der Kuppel des Doms seien, folgt die lakonische Antwort: "Bann se sich bewäche, senns Duuwe (Tauben), bann net, dann senns Ohstricher (Anstreicher)."
Wollen Sie mal einer Taube beim Tanzen und Trippeln zuschauen? Dann empfehle ich das Video zum Song "Who Dat" des amerikanischen Songwriters Emmit Fenn. Hier geht’s lang. (Rainer M. Gefeller) +++