Das i-Wort - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
08.11.24 - Sind Sie bereit für einen kurzen Ausflug in die Völkerkunde? Dann sprechen Sie mir doch mal einfach nach: In-di-a-ner. Am besten gleich nochmal, und ein bisschen flüssiger: Indianer! Und, hat’s weh getan? Die großartigen Völker, denen wir heute unsere Hochachtung darbieten wollen, heißen nämlich nicht "Wilde" oder "Rothäute" und erst recht nicht "Iiiih".
Sondern: siehe oben. Weshalb interessiert uns das überhaupt? Weil irgendwer unseren wahrhaftigen Volks-Sänger Udo Lindenberg zensieren will – er hat nämlich das "i-Wort" (auf deutsch: Indianer) benutzt. Und außerdem wollen wir nicht, dass die Helden unserer Kindheit von irgendwelchen Kulturschaffenden zu Zwergen fehlgeleiteter Ideologien geschrumpft werden. Auf in den Kampf!
Eine Bemerkung muss noch sein: Haben Sie den rabiaten Mittwoch schon verdaut? Erst stapft jenseits des Atlantik der unberechenbare Mr. Trump an die Macht, ein paar Stunden später platzt unsere Bundesregierung. Die gelb-grün-roten Häuptlinge haben sich aber auch benommen, als würden sie sich um die Macht in einem Taubenzüchter-Verein balgen. Jetzt ist auseinandergeflogen, was nicht zusammengehört – und das ist gut für Deutschland. Übrigens auch für den Umgang mit Trump, der diese entkräftete Streithammel-Regierung voller Wonne zum Frühstück verputzt hätte. Die nächsten paar Monate werden wild. Aber spätestens im Frühjahr sollte die Hauptstadt wieder regierungsfähig sein. Bis dahin halten wir es einfach mit Majestix, dem Chef von Asterix und aller übrigen unbeugsamen Gallier. Er lehrt uns: "Und denkt daran: Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist, dass uns der Himmel auf den Kopf fällt."
Soviel dazu, jetzt zur Sache: "Vielstimmig" heißt ein Kultur-Ereignis, das Mitte November den Berlinern den Atem rauben soll. Acht Chöre wollen sich in 40 Konzerten quer durch alle Lieder-Gattungen singen, im Humboldt-Forum. Ein Lied stammt aus dem Jahr 1983, "Sonderzug nach Pankow" von Udo Lindenberg. Der Song ist ein echter Leckerbissen. "Hey, Honey" – so schmiert der West-Rocker dem steifen DDR-Herrscher einen rein, "schließt dich ein auf’m Klo und hörst West-Radio". Eine solche Ladung Spott wird von Despoten damals wie heute als größte aller Bedrohungen empfunden. "Oberindianer" hat der Lindenberg den Erich Honecker obendrein genannt – aber das wird plötzlich zum Skandal. Einige Sängerinnen und Sänger, erfuhr die "Welt", hätten sich "nicht wohlgefühlt", weil sie den Begriff Indianer als abwertend empfinden. Mann, Udo, das hättest Du doch wissen können – Ober-Indigener hättest Du singen dürfen. Oder Ober-Ureinwohner. Damit alle Chormitglieder sich wohlfühlen, wird jetzt munter drauflos zensiert. Sie einigten sich "vorerst" darauf, "Ober-I" zu singen, "mit langer Betonung auf dem I", schreibt die "Welt". Willkommen in Absurdistan. Wäre es nicht auch denkbar gewesen, das Lied einfach nicht zu singen? Stattdessen soll ausgerechnet ein Song gegen die Zensur-Heinis der DDR so verbogen werden, dass er mundgerecht ist für die eigenen Befindlichkeiten.
Der Herbst glüht in den Wäldern von Rhön und Vogelsberg – Indianer-Sommer. So nennen die Nordamerikaner die Farbenrausch-Zeit der Wildnis. Solche Wälder sind die richtige Kulisse für "Indianer-Spiele" ganz im Sinne des Karl May. Der phantasiebegabte Schriftsteller wurde von dem Philosophen Ernst Bloch als "einer der besten deutschen Erzähler" geadelt, als "Shakespeare der Jungens". Wenn wir früher durch die Wälder streiften, in Phantasie-Kostümen (Farbstreifen im Gesicht, irgendeine Vogelfeder im Haar, einen selbstgebastelten "Flitzebogen" unterm Arm) – dann fühlten wir uns wie Karl Mays Apachen-Häuptling Winnetou. Gefressen haben wir seine Bücher, manche noch spätabends unter der Bettdecke. Viele stachen sich Nadeln in die Fingerspitzen oder ritzten sich die Handballen, um das Blut mit dem des Kumpels zu mischen. So hatten es Winnetou und Old Shatterhand vorgemacht, und jetzt waren wir Blutsbrüder auf immer und ewig. Oder mindestens so lange, bis die ersten Mädchen den Lebensweg kreuzten.
Im März 2021 kandidierte eine gewisse Bettina Jarasch für den Vorsitz der Berliner Grünen. Das hat geklappt, obgleich die Lady (die später durch sonderbare Verkehrskonzepte zu bundesweitem Ruhm gelangte) einen unverzeihlichen Fehler beging: Sie offenbarte den Delegierten, dass sie als Kind davon träumte, Indianerhäuptling zu werden. Der darauffolgende Aufruhr war allzu köstlich – Frau Jarasch wurde dazu genötigt, sich zu entschuldigen; sie habe leider "unreflektierte Kindheitserinnerungen" zum Besten gegeben. Hmm, lieber unreflektiert als gar nicht drüber nachgedacht. Oder? Der BAP-Sänger Wolfgang Niedecken will sich seine Kindheit nicht verbiegen lassen: "Wir haben nicht Cowboy und indigene Bevölkerung gespielt, wir haben Cowboy und Indianer gespielt."
Es gibt viele Gründe, aus denen "die Weißen" sich schämen sollten gegenüber den indianischen Völkern. Die Entrechtlichung, Entmenschlichung, Vertreibung und Vernichtung der amerikanischen Ureinwohner sind ein großer Sündenfall der "Vereinigten Staaten". Das Massaker von "Wounded Knee" an 300 Sioux-Indianern durch US-Kavalleristen am 29. Dezember 1890 ist bis heute ein schmerzhafter Stachel im Bewusstsein der Indianer. Erst vor wenigen Wochen hat Joe Biden, Noch-Präsident der USA, die indianischen Völker um Entschuldigung gebeten für ein 150 Jahre lang praktiziertes Unrecht: Bis zu 150.000 Kinder wurden ihren Eltern entrissen und in (auch von der katholischen Kirche betriebene) Internate gesteckt. Sie wurden umbenannt, durften ihre Sprache nicht mehr sprechen, waren Gewalt-Exzessen und Missbrauch ausgesetzt. Die Internate, sagte Biden, seien "Orte des Terrors" gewesen, um die Kinder zu Weißen umzuerziehen. Erst vor 50 Jahren wurde diesem Schrecken ein Ende bereitet.
In Nordamerika leben derzeit annähernd vier Millionen Indianer. In Kanada in 615, in den USA in 566 "anerkannten Stämmen". In Lateinamerika leben zwischen 65 und 70 Millionen Indios. Indianer sind für die Deutschen die Ursprungs-Menschen Nordamerikas. Sie nennen sich auch selbst so: Der "National Congress of American Indians" (NCAI), die älteste und größte Indianer-Vertretung in den USA, sowie das radikalere "American Indian Movement". Im Washingtoner Innenministerium kümmert sich ein "Amt für indianische Angelegenheiten" um die Belange der Indianer und deren Reservate. Der Autor und Filmemacher Drew Hayden Taylor, ein Anishinabe-Indianer, amüsiert sich: "Die meisten, die ein Problem mit der Bezeichnung Indianer haben, sind Weiße. Wir selbst verwenden den Begriff alltäglich und machen uns auch darüber lustig... Wir werden uns nicht umbenennen, bloß weil irgendwelche Weißen, die nie unsere Realität geteilt haben, den Begriff als diskriminierend empfinden." Und für die Frauenrechtlerin Mary Two-Axe Earley vom Stamm der kanadischen Mohawk war die Aufregung der Weißen sowieso bedeutungslos: "Ich hatte die Vision, dass ich eines Tages wieder frei sein würde. Als Indianerin."
Zur Erinnerung: den Streit hat uns Christoph Kolumbus eingebrockt. Am 14. August 1502 landete der Seefahrer auf amerikanischem Festland, dachte aber, er sei in Indien. So ist das, wenn man kein Navi dabeihat. Vergessen wir mal, dass die Wikinger schon 500 Jahre früher dort waren – Kolumbus jedenfalls erntete den Ruhm als Entdecker. Und nannte die Bevölkerung Indianer. Rein rechtlich gibt es da auch heute keine Einwände. Der Mainzer Anwalt Karsten Gulden doziert: Die Verwendung des Begriffs sei weder herabwürdigend noch rassistisch "und erfüllt damit nicht den Straftatbestand der Beleidigung gemäß Paragraph 185 des Strafgesetzbuches". Auch gegen Indianer-Kostüme sei "nichts einzuwenden". Das ist eine tröstliche Auskunft, drei Tage vorm Beginn der "fünften Jahreszeit". Ausgerechnet in der "taz", die ja stets für "kultursensible, diskriminierungsfreie und vorurteilsbewusste Erziehung" ficht, formulierte die Lehrerin Birgit Schmidt zur Karnevalszeit 2020 ein flammendes Plädoyer: "Kinder entscheiden sich bei Kostümen oft nur nach einem Kriterium: Bewunderung. So ist Pocahontas oder Winnetou kein Kostüm eines Menschen mit anderer Hautfarbe, sondern das Kostüm einer Heldin oder eines Helden." Unser Indianer-Philosoph Bloch schafft es mühelos, unseren kindlichen Phantasien einen echt intellektuellen Anstrich zu verleihen. Über die Karl-May-Romane schrieb er: "Fast alles ist nach außen gebrachter Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will."
Die indianischen Philosophen, deren Weisheiten mitunter auf jedem zweiten T-Shirt zu lesen waren, klangen für uns schnelldenkende Bleichgesichter irgendwie eingängiger. Geben wir einem unbekannten Kumpel von Winnetou das letzte Wort:
"Ein Indianer saß am Fluss und angelte. Da kam ein weißer Mann daher und sagte zu ihm: Warum gehst Du nicht arbeiten? Du kannst Geld verdienen, Dir ein Haus kaufen, eine Familie gründen, kannst ein großes Auto fahren. Du könntest wirklich ein gutes Leben führen. Dann fährst Du in den Urlaub, zum Beispiel an einen Fluss zum Angeln." Der Indianer antwortete: "Ja, weißer Mann du hast recht. Das könnte ich tun. Aber ich sitze ja schon an einem Fluß und angle."
Wenn Sie Udo Lindenbergs "Sonderzug nach Pankow" noch mal in nostalgischer Verschwommenheit, original und unzensiert, genießen möchten: Hier geht’s zu Youtube. (Rainer M. Gefeller) +++