Hallo Mama, schick mir Geld - Bemerkungen von R. M. Gefeller
27.12.24 - Ist es nicht herzerwärmend, wie sich rund um die Feiertage unsere Liebsten wieder melden? Natürlich wollen sie uns zur Kasse bitten. Ist doch egal, nichts kann das Gefühl ersetzen, irgendwie gebraucht zu werden. BLING sagt das Smartphone, da rauscht abermals eine SMS herein. "Hallo Mama", steht da, "mein Handy ist in Badewanne gefallen. Bitte, bitte schick Geld, damit ich dir anrufen kann." Wie, was? Bin ich von einer Geschlechtsumwandlung heimgesucht worden, ohne dass ich was gemerkt habe? Wer nennt mich hier Mama, und mit welchem Recht? Und seit wann beherrschen meine Kinder das korrekte Deutsch nicht mehr? Ruckartig ist das freudige Gefühl futsch, alle Alarm-Antennen sind ausgefahren. Wer macht sich da auf meinem Handy breit? Zeig dich, du Mistbock!
Aber der Ganove funkt selbstverständlich aus dem Verborgenen. Wie viele Nichten, Neffen, Enkel und Kinder er uns schon auf den Hals geschickt hat! Eine kleine Auswahl ihrer Liebesbotschaften, Sprachfehler inklusive: "hllo Mama, das is meine neue Nummer. Schick mir Testnachricht!" "Schönen guten Aend, Papa/Mama das ist meine neue Nummer. Bitte schreib Naricht." "Hallo Papa mein Ältes Handy is kaputt Kannst du ein Nachtricht schicken." "Hallo Mama, rate mal wessen Handy in der Waschmaschine gelandet ist." Mal schreibt "dein Lieblingskind", mal "dein ältestes Kind". Manchmal werden dramatische Notlagen – Unfälle, Gewalttaten – vorgetäuscht, die unsere Herzen rühren und den Verstand ausknipsen sollen. Löschen Sie, was Ihnen seltsam vorkommt. Falls Sie Kinder haben: Rufen Sie sie unter der vertrauten Telefonnummer an, dann wissen Sie doch gleich Bescheid.
Sind wir zu gutmütig für die digitale Welt?
Oder zu blöd? Im Geschäftsleben haben Gefühle nichts zu suchen, sagt man. Im Internet aber lauern millionenfach Geschäftemacher, die unsere Gefühle und Ängste ausschlachten wollen. Falsche Polizisten und Gerichtsvollzieher, falsche Verwandte, falsche Freunde, falsche Banker, falsche Postboten, falsche Geliebte. Ein Heer von modernen Wegelagerern, Trick-Betrügern und Erpressern. 2023 wurden laut Statista in Deutschland 5,3 Milliarden SMS verschickt – 2012 waren es noch fast 60 Milliarden. Stattdessen spielt das ganz große Orchester jetzt auf WhatsApp: Im November meldete das Technik-Magazin "Chip", dass weltweit 100 Milliarden WhatsApp-Nachrichten verschickt werden – pro Tag! Allein in Deutschland gab es laut Bitcom-Verband im vergangenen Jahr über 1,1 Milliarden tägliche WhatsApp-Nachrichten; das sind 400 Milliarden pro Jahr und doppelt so viele wie zwei Jahre zuvor. Wer soll in dieser Flut noch den Kopf oben behalten und echt von falsch unterscheiden?Fallen Sie bloß nicht auf den Paket-Trick rein! Mal meldet DHL, dass der "Versand pausiert" – erst müssen gefälligst die Zollgebühren bezahlt werden. Eine Phantasie-Firma namens "Myhermes-hilf" fordert Gebühren. Schön auch folgender Versuch: "Ein Agent findet einen Gewichtsfehler auf ihrem UPS-Paket. Zahlen Sie die Differenz..." Oder dieser hier, von einer Cheryll Sundberg bei DHL. Ach, die Süße hat Ihnen auch schon geschrieben? In ihrer SMS an mich beklagt sie, dass der Kurier "nicht über Ihre detaillierte Adresse verfügt". Haha. Und dann will uns ihr Kundendienst helfen, aber nur wenn wir "mit Y antworten". Wieder sollen wir auf einen Link klicken, wieder drücken wir stattdessen die Lösch-Taste.
Der Banken-Trick: Alle, alle haben mir schon Alarm-Meldungen geschickt. Die Postbank zum Beispiel: "Ihre BestSignApp ist abgelaufen." Die Deutsche Bank: "Ihre PhotoTAN-App läuft ab." Santander: "Ihre App endet bald." Im Frühjahr wurde ein kriminelles SMS-Netzwerk zerrissen – die Bande hatte Bankkunden in ganz Deutschland ausgespäht und bereits über 100.000 Euro auf ihre Konten umgeleitet. Der Haupttäter, ein 30-Jähriger, saß nicht weit weg – in Frankfurt. Mit falschen SMS hatten sie ihre Opfer dazu gebracht, Bankdaten zu verraten. Nächster Fall: Ein 83-Jähriger aus dem Fuldaer Umland wollte Geld investieren. Das hörten die Trickbetrüger einer gefälschten "Investitionsplattform" gern. Er zahlte erstmal 500 Euro, war dann aber ganz hin und weg von den Monster-Gewinnen, die ihm versprochen wurden. Der Einfachheit halber, haben sie ihm aufgeschwätzt, solle er ihnen Fernzugriff auf sein Onlinebanking erlauben – dann flutscht es doch wie von selbst. Das stimmte: Ruckzuck war sein Konto um 29.000 Euro leichter. Eine erfolgreiche Masche der Bank-Betrüger heißt Phishing: Wir werden aufgefordert, zur Rettung unserer misslichen Lage einen Link anzuklicken. Wird gemacht – und schon sitzen wir in der Bredouille. Eine geheime App wird installiert und übernimmt die Kontrolle über unser Handy. Wenn wir schon so tief in der Grube sitzen, können wir ja auch gleich noch IBAN und Passwörter rüberreichen...
Der Liebes-Trick
Im September, ein älterer Herr aus dem Landkreis Fulda surfte mal wieder durch einen Social-Media-Kanal, drängte sich eine Unbekannte in seine Korrespondenz. Sie sei, erzählte sie, Mitarbeiterin der Weltgesundheits-Organisation. Der 81-Jährige war interessiert – und schon wurde er nach Herzenslust angebaggert. Die Gesundheits-Arbeiterin schickte ein Foto (Mann, sah die gut aus!), turtelte ordentlich herum und ließ nebenher durchblicken, dass sie erstens ziemlich einsam und zweitens recht vermögend sei. Der alte Mann war wohl recht wuschig über dieses digitale Liebesglück. Irgendwann klagte sie, dass ihr wegen eines gesperrten Kontos der Zugang zu ihrem Reichtum versperrt sei. Der Mann aus der Rhön half gern; 6.000 Euro waren futsch, bevor er erkannte, dass an der Liebsten nichts echt war, nicht mal das Foto. Zu spät, leider – aber längst nicht so spät wie bei einer Lady aus dem Kreis Hersfeld-Rotenburg. Sie überwies, über Wochen verteilt, sogar 65.000 Euro auf ausländische Konten, bevor ihr dämmerte, dass da jemand ihre Einsamkeit und Sehnsucht ausgenutzt hatte. Erst vor kurzem hat sich bei mir eine halbwegs ansehnliche Blondine per WhatsApp gemeldet. Die Botschaft war denkbar kurz: "Hi". Sie grinst aus einem kreisrunden Foto vor einem offiziell wirkenden, aber nicht entzifferbaren Schild. Auf einer Landkarte wird suggeriert, sie befinde sich in Alabama (USA). Aber weshalb hat ihre Telefonnummer die Vorwahl von Nigeria (00234)? Und was will sie wohl von mir?Auf dem Smartphone schrumpft die Welt auf eine Bildschirmgröße von vielleicht 80 Quadratzentimetern. Was in diesem Mini-Universum alles los ist! Wir sehen bunte, graue, herrliche, kitschige, phantasievolle Fotos, Filme und Gemälde, für deren Feinheiten man allerdings Adler-Augen braucht (oder eine Lesebrille). Wir lesen Liebesgeschichten und Hassgesänge, Anrührendes und Perverses und immer wieder Werbung, Werbung, Werbung. Wir begegnen Lebenshelfern, Kosmetik-Beraterinnen, Drink-Mixern, Gesundheits-Aposteln, Predigern, Finanzmaklern, Hobby-Handwerkern, Politikern, Warenhändlern, Metereologen, Astrologen, Umwelt-Aktivisten, Köchen, Reiseleitern. Und Verbrechern. Sie alle wollen natürlich nur unser Bestes: Geld.
Hinter dem strahlenden, piependen, vibrierenden Wunderwerk für die Hand tritt die echte, analoge Welt zwangsläufig in den Hintergrund, jedenfalls für durchschnittlich zweieinhalb Stunden pro Tag. Die Jüngeren (16 bis 29 Jahre) verschwinden täglich sogar drei Stunden im Digitalen, Menschen im Rentenalter kommen nur auf durchschnittlich 96 Minuten. Für viele geht’s da wilder zu als im Drogenrausch, und etliche vergessen, dass es in dieser lästigen Außenwelt noch echte Autos, Ampeln, Züge, Baustellen, Klippen und andere Hindernisse (zum Beispiel Menschen) gibt. Irgendein Pinterest-Philosoph hat uns aufgeklärt: "Den verschwommenen Rand rings um das Smartphone nennt man übrigens Realität." Manche Babys müssen mit den zwei Gesichtern ihrer Mütter klarkommen, wenn sie im Kinderwagen durch die Bahnhofstraße geschaukelt werden: dem beruhigenden Mund-Nase-Augen-Anblick und der Rückseite eines Smartphones. Eine Zweitklässlerin aus Louisiana wurde US-weit berühmt, weil sie in einem Schulaufsatz ihre Seelenpein offenbarte: "Ich hasse das Handy meiner Mutter."
Anfang des Monats hat die ehrwürdige Wörterbuch-Redaktion von "Oxford University Press" verkündet, dass ein 170 Jahre alter Begriff zum Wort des Jahres gekürt wurde – "Brain Rot", Gehirnfäule. Das Wort hat der Gesellschaftskritiker, Lehrer, Philosoph und Fabrikant Henry David Thoreau 1854 in seinem wichtigsten Buch "Walden" zum ersten Mal benutzt: "Während England darum kämpft, die Kartoffelfäule einzudämmern, bemüht sich niemand um die Heilung der Gehirnfäule – obwohl die sich doch viel stärker verbreitet und viel tödlicher ist." Thoreau beklagte, dass die Menschheit komplexe Probleme zu häufig mit einfachen Antworten zu kurieren versuche. Auch heute beschreibt "Brain-Rot" die Neigung, sich im Internet in wertlosem Schund zu verlieren. Die übermäßige Nutzung trivialer Online-Inhalte führe "in einen Zustand geistiger Vernebelung". Ja, doch – haben wir das nicht alle schon verspürt? Sowas gibt es nicht nur in der digitalen Welt, sondern auch bei bestimmten Fernseh-Sendungen (RTL-Shows, Krimis im ZDF...) Vor allem aber auf TikTok und Instagram, warnt die "Zeit", müsse man Obacht geben, damit einem nicht die Hirnzellen verschimmeln im Dschungel der Banalitäten.
Schluss, aus – gibt’s denn gar nichts Gutes in diesem digitalen Kosmos? Aber ja doch. So viel Musik, dass unsere Lebenszeit nicht reicht, um alles zu hören. 2022 haben die Streamingdienste schon über 160 Millionen Songs im Angebot gehabt, die Hälfte allein bei Spotify. Heiliges Handy! Da hören wir doch gleich mal diesen alten Party-Reißer von Klaus Lage über die Liebe in einer analogen Welt: "Tausend Mal berührt, tausend Mal ist nichts passiert." Kaum tanzen wir durch die Küche, meldet sich schon wieder so ein ahnungsloser Internet-Fuzzy zu Wort: "Was bedeutet der Text?" will der Strohkopf wissen, und hat auch gleich eine Antwort: "Mama, 50, kommt mit ihrem neuen Smartphone nicht klar." (Rainer M. Gefeller) +++