Schlagloch-Blues - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
18.10.24 - Wollen wir mal kurz in einen Autofahrer-Stammtisch reinhören? Thema Nummer 1: In Fulda haben Radfahrer immer Vorfahrt. 2. An den Fuldaer Ampeln leuchten die roten Lampen grundsätzlich länger als die grünen. Und drittens sollte mal jemand "die Verantwortlichen" verklagen, weil einem die verpickelten, schlagloch-gespickten Straßen den Unterboden zerschrammen. Wenn man sowas vernimmt, könnte man meinen, Fulda sei ein Renn-Parcours für Motocross-Fans. Oder liegt unsere Stadt vielleicht im Karakorum-Gebirge, wo’s um den Straßenbelag bekanntlich ganz übel bestellt ist? Gönnen wir uns mal eine Testfahrt. Anschnallen, bitte.
Petersberger Straße: Nichts. Leipziger: Nichts. Fahren wir doch mal kurz über die B 254, rüber nach Großenlüder: Auch nichts. Die L3143 von Horas nach Kämmerzell: wieder nichts (wäre freilich auch eine Schande, ist ja eben erst repariert und heiß gemangelt worden). Die Schlitzer, die Niesiger, die Haimbacher Straße, die B27: kein böses Rumpeln, keine hektischen Lenkbewegungen, nur sanftes Dahingleiten. Ja, wo sind sie denn, die Querrillen, die Löcher im Asphalt, die von Teer-Karies befallenen Straßen? Ah, da, auf der Marienstraße unterhalb des Frauenbergs – hat’s da nicht eben einen Schlag getan? Tatsächlich, das Auto hat mal kurz geschaukelt. Da haben die Straßenpfleger wohl etwas unelegant gearbeitet und einfach ein paar Teerlappen über den alten Asphalt gezogen.
Kaum schaut man mal genauer hin, wird es dann aber doch unübersehbar, wo die Fahrbahn vor sich hinbröselt, Kanaldeckel absacken, Straßenlöcher mit Teer vollgekleckert wurden – vor allem in den Seitenstraßen. Ein paar Beispiele gefällig: An-St.-Johann, Damian-Schmitt (Radfahrer, bleibt weg!), Dr.-Dietz, Dr.-Höfling, Walter-Bauer, Pacelli-Allee (Obacht, da kann’s einem auf dem Radweg schon mal den Lenker aus den Händen hauen), Sachsenstraße (da wächst schon Gras drüber). Die Aufzählung kann fortgesetzt werden. Aber wir nehmen die Abkürzung zu Fuldas Boulevard der Verdammnis, der Buttlarstraße. Hier rappelt es tatsächlich mal, und wirklich: es ist eng. Parkende und fahrende Autos rücken einander derart aufs Blech, dass man um seine Rückspiegel fürchten muss. Und dann noch die Radfahrer! Die Krankentransporte zum Herz-Jesu-Krankenhaus! Vielleicht sollten die Stadtplaner die Häuser ein wenig nach hinten schubsen. Lasst Euch Zeit; saniert werden soll hier ja sowieso frühestens in zwei Jahren.
"Ratten des öffentlichen Raums" 20 Jahre lang hält eine deutsche Durchschnitts-Straße; dann ist die Asphaltdecke, 15 bis 30 Zentimeter dick, fertig auf der Bereifung. Dem Wetter, dem Dauer-Druck des Verkehrs kann kein Teergemisch auf ewig widerstehen. Wenn Schlaglöcher, die "Ratten des öffentlichen Raums" (TAZ), erst ihr hässliches Gesicht zeigen, kann’s gefährlich enden. Wie zum Beispiel im April an der abschüssigen Straße "Am Stausee" in Schotten-Rainrod. Dort gab es mindestens ein Schlagloch zu viel – ein junger Mann knallte mit dem Vorderrad seines Pedelec dort hinein. Er wurde schwer verletzt.
Ansonsten hat unsere Region in Sachen Straßen-Zertrümmerung kaum mehr zu bieten als die Fahrstreifen der früheren DDR-Autobahnen nach dem Aufbau Ost. Mal werden die Reifen ein wenig massiert, mal schaukelt das Auto. Ehrlich gesagt: Wenn wir gar nichts spüren, sollten wir zum Arzt gehen. Oder der Wagen ist noch gar nicht losgefahren.
Aber wo gibt es denn echtes Schlagloch-Gefühl? Selbst in Alsfeld nicht mehr, "In der Rambach" – "die schlechteste Gemeindestraße, die wir haben", wie Bürgermeister Stephan Paule im Spätsommer verkündete. Bald schon wird die zerfressene Fahrbahn glatt sein wie ein Bügelbrett: in einem Jahr soll alles tiefen-saniert sein, die üblichen Klein-Reparaturen sind nutzlos. Herr Paule: "Viel zu fräsen gibt es hier nicht mehr".
409 Einwohner hatte Schletzenhausen im Jahr 2010. Die Schlaglöcher auf der einen Kilometer langen Hauptstraße hat niemand gezählt. Immerhin: Im Bürgermeisteramt Hosenfeld wurde die 1,2 Millionen Euro teure Sanierung der Krüppelpiste beschlossen. Die Anlieger sollten zahlen, wollten aber nicht. Was für ein dolles Dorf: An einem Oktober-Tag traten 120 Einheimische zu einer "Schlagloch-Féte" an, Motto: "Kalter Teer meets heiße Bratwurst." Binnen eines Tages waren die Straßen-Löcher mit Kalt-Teer gestopft. Der Bürgermeister soll geschmollt haben... Und wie war das 1951 in Rommerz? Da verfassten die Bürger am 21. Januar einen höflich gehaltenen Brief "an das Landesbauamt Fulda" und beklagten, dass sich auf ihrer vermatschten Dorfstraße in Richtung Flieden das Regenwasser in bis zu 30 Zentimeter tiefen Kratern sammelt, was "jedem einigermaßen kultivierten Menschen zuwider" sei. Es sei den Einheimischen "in ihrer meist sauberen Kleidung" nicht zuzumuten, die "fast unbegehbare" Schlamm-Piste zu nutzen. Zumal schon Unfälle zu beklagen waren: einem Motorradfahrer warf ein Schlagloch die Maschine aus der Bahn, ein weiterer prallte mit Wucht gegen einen sich vorwärts tastenden Fußgänger, der recht schwer verletzt wurde. Und dann war da noch die Kuh, die in den Dorfbach stürzte – weil irgendwer das dortige Brückengeländer abmontiert hatte. Heute hat die Federung keine Mühe mit der Fliedener Straße, aber damals war die osthessische Via Mala ein Schrecken aller Verkehrsteilnehmer: "Selbst bei trockenem Wetter ist es den Fußgängern nicht vergönnt, mit sauberen Schuhen nach Hause zu gelangen." Das Original-Schreiben finden Sie hier: www.heimatverein-rommerz.de.
Positiver Aspekt?
Andererseits: Haben diese Schlaglöcher nicht auch ihre guten Seiten? Der Australier Steven Wheen hat es durch eine Marotte zu weltweitem Ruhm gebracht: er bepflanzt die Asphalt-Krater mit Narzissen, Tulpen und Grünzeug, garniert das Ganze mit Mini-Fahrrädern und -Telefonzellen, winzigen Sitzgruppen und Rasenmähern – schon muss man über die Löcher lachen. Wheen nennt sich selbst "Pothole-Artist", Schlagloch-Künstler. Nachahmer gibt es überall auf der Welt, zum Beispiel auch in Kaltennordheim: im dortigen Hardtweg haben Anwohner die Risse im Teer mit Heidekraut bepflanzt. Der Londoner Schlagloch-Versteher Tim Webb lässt in den Kratern Plastikenten schwimmen. Ein anonymer Straßenkünstler in Lyon füllt die Löcher im Teer mit wunderschönen Mosaiken. Es gibt Schlagloch-Gedichte und, natürlich, Schlagloch-Songs. Zum Beispiel von dem großartigen Randy Newman. 2008 hat er den Blues "Potholes" geschaffen. Er hofft auf Schlaglöcher auf seinem Lebensweg, singt er da, die groß genug sein mögen, seine unschönsten Erinnerungen zu verschlingen. Aus dem Refrain:Gott segne die Schlaglöcher
Auf der Straße unserer Erinnerungen
All das kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere Region für Schlagloch-Enthusiasten kein gutes Pflaster ist. Wenn Sie echt zerstörerischen Teer-Kratern begegnen wollen, fahren Sie doch einfach mal nach Frankfurt, Gewerbegebiet Fechenheim. Drei Straßen, die sinnigerweise alle nach Auto-Pionieren benannt wurden, waren bereits 2018 vollkommen verrottet: Daimlerstraße, Adam-Opel-Straße, Carl-Benz-Straße. Seit 1946 wurde an den Straßen nichts gemacht, an manchen Stellen starrte das alte Kopfsteinpflaster durch die Löcher. Vier Jahre später, 2022, schlagen Gewerkschaften und Wirtschaft wieder mal Alarm: Ulrich Caspar, Präsident der Frankfurter IHK: "Die Industriestraßen sind seit Jahren fast unbefahrbar, Schlaglöcher, in die ganze Autoreifen passen, prägen das Bild. Immer wieder muss Ware entsorgt werden, weil sie die Fahrt über die ‚Buckelpisten‘ nicht überstanden hat." Im April 2023 griff die Bild-Zeitung tief in die Schatztruhe ihrer Wortfindungs-Begabung und ernannte die Carl-Benz-Straße zur "Achs-Knacker-Allee! Reifen-Schänder-Strecke! Stoßdämpfer-Quäler-Weg!" Nützt alles nichts, für sowas hat die Frankfurter Koalition (Grüne, SPD, FDP und Volt), bei der die Willkommenskultur für Autofahrer ohnehin nicht hoch im Kurs steht, kein Geld: der bis 2026 vereinbarte Industriestraßen-Etat wurde von 75 auf 16 Millionen Euro gekürzt. Anfang 2024 war die Sanierung der Carl-Benz-Straße immer noch "in Vorplanung".
Manchmal hilft nur die Flucht in die Vergangenheit. Stellen Sie sich vor, der Frankfurter Johann Wolfgang von Goethe würde heute über die Straßen seiner alten Heimatstadt kutschieren. Was würde er denken? Dieses hier: Da hat sich ja nichts geännert in den vergangenen 250 Jahren! Immer noch diese vermaledeite Rückenfolter, immer noch diese Schlaglöcher!
Als Goethe in der Nacht des 3. September 1786 heimlich seine Sommerfrische in Karlsbad verließ, um sich für zwei Jahre ins liebliche Italien davonzumachen, da hat er wohl manche Nacht und manchen Tag den Schlagloch-Blues gesummt. Hätte er doch seinen Zeitgenossen Georg Christoph Lichtenberg sorgfältig gelesen, der über Reisen in jener Zeit notierte: "Man hat in Deutschland statt der englischen Postkutschen, in denen sich eine schwangere Prinzessin weder fürchten noch schämen dürfte zu reisen, die offenen Rumpelwagen eingeführt. Sie streichen die Postwagen rot an, als die Farbe des Schmerzes und der Marter…" Zwar waren die beinharten Kutschen seit einigen Jahrzehnten durch grobe Metallbänder abgefedert – aber davon spürte der Rücken des Reisenden nichts, wenn die Räder durch Furchen und Schlaglöcher rumpelten und das Gefährt bei zu schneller Fahrt – bergab ging’s schon mal im bedrohlich rasanten Galopp auf zwölf km/h – gelegentlich auch gern umstürzte. Bremsen wurden erst 1843 Vorschrift. Am 6. November 1780 war Wolfgang Amadeus Mozart unterwegs zur Uraufführung seines "Idomeneo" in München, die Kutsche galoppierte durch den Vorort Haar. Mozart beklagte danach im Brief an seinen Vater den Zustand seines Allerwertesten: "Er war ganz schwielig und vermutlich feuerrot, zwei ganze Posten fuhr ich die Hände auf dem Polster gestützt und den Hintern in Lüften haltend."
Was macht man denn heutzutage, wenn solch ein Schlagloch plötzlich auf einen zurast? Auf Webseiten für Golf- und BMW-3-Fahrer werden Ratschläge ausgetauscht, wie man Pickel-Pisten bewältigt. "Mit Vollgas", rät einer, "das schont die Achsen am ehesten!" Der Mann hat wohl nicht die wirklich tiefen Straßen-Krater wahrgenommen; aus eigener Beobachtung möchte ich von allzu großer Hast abraten. In jedem Fall aber sei der gute alte Manta-Spruch zu beherzigen: "Kein Alkohol am Steuer! Ein Schlagloch, und man verschüttet alles!"