Lieber, armer Weihnachtsmann - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
29.11.24 - Haben Sie früher auch an den Weihnachtsmann geglaubt? Oder ans Christkind? Oder an beide? HoHoHo, da haben Sie sich ja ganz schön veräppeln lassen! Hoffentlich wurde Ihre Psyche nicht verbeult, als Sie Ihren Eltern endlich auf die Schliche gekommen sind und erkennen mussten, dass Sie Opfer eines einzigartigen Lügen-Komplotts geworden sind. Wir sehen schon, wie manche Fachkraft aus dem psychologisch-pädagogischen Wissenskreis sich mitleidig und sorgenvoll über Sie beugt: Noch so ein Weihnachts-Patient. Höchste Zeit für die Aufarbeitung; vielleicht in einem Stuhlkreis? Bei der Gelegenheit können wir auch rasch überprüfen, wann der Nikolaus in Ihr Leben trat. Und ob man überhaupt noch Weihnachtsmann sagen darf.
Da sitzen wir nun, die Erinnerungen quälen uns: Vor uns steht ein Mann im roten Kittel, hält ein fettes Buch in der Hand und startet gleich mit der furchteinflößenden Frage: "Warst du denn auch schön brav?" Hinter dem Weihnachtsmann knurrt sein Kettenhund, der pechschwarze Knecht Ruprecht, und schlägt schonmal den Reisigbesen an den Türpfosten. Die Lage ist ernst. Wer nicht "brav" war, so die Drohung, kriegt erstens keine Geschenke und wird zweitens in den Sack gestopft und irgendwo weggeworfen. Gottlob ist der grundgütige Weihnachtsmann da, der alles über uns zu wissen scheint und die kindlichen Ängste in einer Soße aus überirdischer Nachsicht ertränkt. In manchen Familien sollen elterliche Erziehungsversager den Knecht schon mal aufgefordert haben: "Jetzt zieh ihm mal einen rüber" – aber das wurde wohl meistens ignoriert. Stattdessen wurden magischerweise Geschenke aus dem Sack gezaubert, von denen wir so lange schon geträumt hatten. Woher wusste der Mann das? Den musste doch echt der Himmel gesandt haben. Also alles gut? Aber nicht doch. Das wäre doch viel zu einfach, psychologisch betrachtet.
Um wen geht’s hier eigentlich? Und vor allem: Wer bringt an Heiligabend die Geschenke? Im Norden, Osten und in der Mitte Deutschlands meistens der Weihnachtsmann, im Süden und Westen sowie in Österreich und der Schweiz fast immer das Christkind. Fulda ist mehr Christkind als Weihnachtsmann. Das Christkind ist "geschlechtslos", hat eine "engelsgleiche Erscheinung", ist eine Blondine oder ein Blondie, trägt gern eine Art Nachthemd und tritt selten persönlich in Erscheinung. Der Weihnachtsmann ist ein rundlicher, freundlicher, bärtiger, älterer Herr im roten Samtkittel mit Pelzbesatz. Da er viel zu gütig ist für diese Welt, hatte er früher stets den Knecht Ruprecht dabei (den man übrigens in der Schweiz zutreffend Schmutzli nennt). Und Nikolaus, im Mittelalter der große Held des Weihnachts-Spektakels, ist nur noch eine Randfigur. Schön, dass er wenigstens noch am 6. Dezember Süßigkeiten und Socken in Kinderstiefel stopfen darf. Das hat er dem Martin Luther zu verdanken, dem die Heiligen-Verehrung des ehrwürdigen Niko einfach zu viel war. Ach, Meister Luther – und heute fahren stattdessen die Weihnachts-Trucks von Coca-Cola übers Land. Und die Weihnachtsmänner stehen in jeder Einkaufspassage und wackeln mit dem Kopf.
Kehren wir zurück in den Stuhlkreis. Da hat sich inzwischen die Berufsgruppe der psychologischen Spielverderber breit gemacht. Der Älteste ist der Anthropologe Renzo Sereno, der bereits 1951 den Takt vorgegeben hat: Für Kinder sei es eine "verstörende Erfahrung", wenn sie entdecken, dass "der dicke Mann mit dem Bart gar nicht existiert." Die Santa-Claus-Lüge nütze nur den Eltern und beschädige die Kinder. Jawohl, trompeten der australische Psychologe Chris Boyle und seine Kollegin Kathy McKay: "Kinder finden alle irgendwann heraus, dass ihre Eltern unverfroren über Jahre hinweg eine Lüge aufrechterhalten haben." Wenn die Geschichte mit dem Weihnachtsmann gelogen war, wie kann man da überhaupt noch Vertrauen haben zu Mama und Papa? Die amerikanische Ethikerin Judith Boss erlebte einen Shitstorm der Sonderklasse, als sie 1991 ihre Behauptung veröffentlichte, die Weihnachts-Lüge habe "eine zerstörerische Wirkung" auf Eltern und Kinder. Aber sie bleibt dabei: "Es ist nicht richtig, Kinder anzulügen." Es sei elterliche "Manipulation", wenn den Kindern beigebracht würde, dass das Leben ein Geschäft ist: Geschenke gegen Wohlverhalten. Lauschen wir noch einem, der der kalten Wahrheit den Vorzug gibt vor der schönen Magie, dem Religionspädagogen Albert Biesinger. Der hat im Interview erzählt, wie er seine Kinder aufklärt: "Das Geschenk fällt nicht vom Himmel, das bringt auch nicht das Christkind durchs Fenster – das ist von Mama und Papa und anderen, die dich liebhaben." Ach, Mensch, ist diese Zertrümmerung unserer Traumwelten nicht einfach nur traurig? Wir halten es lieber mit der deutschen Übersetzung des populären französischen Weihnachtsmann-Chansons "Petit Papa Noël":
Sag hast du gehört, was die Leute reden
Wenn man von dir träumt, so wie ich?
Jemand hat gesagt, es würd‘ dich nicht geben.
Wenn es Träume gibt, gibt’s auch dich!
Dankesehr, da können wir uns mal kurz von dieser Entzauberungs-Zunft abwenden. Haben Sie die Tage bereits einem Schoko-Kerl die Mütze abgebissen? Man muss sich ja ranhalten, im vergangenen Jahr sind nur 167 Millionen dieser "zartschmelzenden" Süßmänner produziert worden; da bleiben statistisch nur zwei Stück für jeden, der in unserem Land angemeldet ist. Vielleicht haben Sie auch gegrübelt, ob unser Mr. Christmas nicht eine Wiedergeburt in anderer Gestalt ist – früher war er bestimmt ein Osterhase. Stimmt leider auch nicht, obwohl’s gerne erzählt wird: der Osterhasi wird nicht zum Nikolausi umgeschmolzen. Weil’s zum Beispiel viel zu aufwändig wäre, die Schokolade aus der Alufolie zu knibbeln.
So, genug genascht, jetzt muss noch mal der Stuhlkreis ran. Die Psychologen haben wir heimgeschickt und machen uns trotzdem Sorgen. Wir sehen ja selbst, dass der Weihnachtsmann über die Jahre so’n Bart bekommen hat – ist er etwa aus der Mode gekommen? Ach was: allein bei der Studentenvermittlung "Jobruf" in Fulda bieten 287 "Weihnachtsmänner" ihre Dienste an. Der Mann ist Kult, auch wenn BILD vor zwei Jahren Alarm schlug: "Jetzt geht’s dem Weihnachtsmann an den Kragen!" Der MDR hatte zuvor bemängelt, dass der alljährliche Geschenke-Lieferant "traditionell ein alter weißer Mann" sei. Ach was! Und jetzt? Heerscharen von Schreib-Menschen haben sich darüber ereifert, dass solch ein Vertreter des Patriachats im Paradies des Genderns unerwünscht sei. Schon wird an Vorschlägen gestrickt: Weihnachtsfrau. Weihnachtsmensch. Weihnachtsperson. Der Dominikanerpater Karl Giese schlägt anstelle des "W-Worts" vor, ihn einfach Christkind zu nennen. Gott, wie blöd! Zumal das Christkind eher auf dem Rückzug ist – da das gewandelte Klima nicht mehr so richtig viel Winter hergibt, werden Weihnachtsmotive immer häufiger in märchenhafte Schneelandschaften verlegt. Und da ist das Nachthemd-Engelchen einfach nicht passend gekleidet.
Wie können wir den image-geschädigten Weihnachtsmann ein wenig aufmuntern? Trinken wir heute Abend zur Weihnachtsmarkt-Eröffnung in Fulda einen Glühwein auf ihn. Erzählen wir ihm einen Witz:
Vater: "Und Sohn, wer bringt an Weihnachten die Geschenke?"
Sohn: "Amazon!"
Vater: "Quatsch, ich meine den dicken Mann mit dem Bart."
Sohn: "Achso. Der Postbote!"
Erinnern wir uns zum Schluss an eine fast 130 Jahre alte Geschichte, die eigentlich alles erklärt. 1897 schrieb die kleine Virginia O’Hanlon an die "New York Sun": "LIEBER REDAKTEUR: Ich bin acht Jahre alt. Manche meiner kleinen Freunde sagen, es gibt keinen Weihnachtsmann. Bitte sagen Sie mir die Wahrheit. Gibt es einen Weihnachtsmann?"
Hier kommt ein Auszug aus der Antwort des Redakteurs Francis Pharcellus Church:
"Virginia, deine kleinen Freunde haben nicht recht. Sie sind beeinflusst von der Skepsis eines skeptischen Zeitalters. Sie glauben nur an das, was sie sehen. Sie glauben, dass nichts sein kann, was ihr kleiner Verstand nicht fassen kann. In unserem Universum ist der Mensch mit seinem Geist ein bloßes Insekt, eine Ameise verglichen mit der grenzenlosen Welt über ihm, gemessen an jener Intelligenz, die die ganze Wahrheit zu begreifen vermag. Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Es gibt ihn so gewiss wie die Liebe und die Großzügigkeit und die Treue. Und du weißt ja, dass es sie gibt und dass sie dein Leben erst so schön machen. Ach! Wie trostlos wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe. Sie wäre so trostlos, wie wenn es dort keine Virginias gäbe. Es gäbe dann keinen kindlichen Glauben, keine Poesie, keine Romantik, die dieses Leben erst erträglich machen. Die einzige Freude fänden wir nur in dem, was wir sehen können."
Die "New York Sun" wurde 1950 eingestellt. Bis dahin wurde der Briefwechsel jedes Jahr zu Weihnachten erneut veröffentlicht. Wäre vielleicht für Osthessen-News auch keine schlechte Idee...
Noch eine Prise Weihnachts-Stimmung! Hören Sie, schauen Sie:
Tino Rossi, Petit Papa Noël, 1946 – DER französische Weihnachtsmann-Hit. Über 300 Millionen Mal wurde der Chanson verkauft und landet jedes Jahr wieder in Frankreichs Hit-Parade. Für Nostalgiker: https://www.youtube.com/watch?v=WQushjP2Wqk
Bruce Springsteen, Santa Claus Is Comin’ To Town, 2007 – amerikanischer Weihnachts-Klassiker total verrockt: https://www.youtube.com/watch?v=iSgEDKjmT5o (Rainer M. Gefeller) +++