

Sex, Crime & Erdbeeren - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
14.06.25 - Jaah, endlich: Erdbeeren! Wir können doch den Hals gar nicht voll kriegen davon. So süß! So zart! So sommerlich! "Frische deutsche Erdbeeren", steht an den Verkaufsständen. Haha, bei diesem netten Lügenmärchen müssten unsere Zauberfrüchte echt rot werden vor Scham – aber na ja, sie sind es ja schon. Jedenfalls sind unsere Erdbeeren ein einzigartiges genetisches Kuddelmuddel.
Als hätten sich die besten Obst-Versteher der Welt (chilenische Ureinwohner, Amerikaner, Franzosen, Deutsche, Spanier, Engländer, nach Amerika verschleppte Sklaven, Steinzeit-Kameraden und viele mehr) zusammengetan, um diese süßeste Verführung zu erzeugen, seit Adam und Eva sich auf den Apfel einließen. Eine Warnung an alle empfindsamen Leserinnen und Leser: dieser Text könnte anstößige Passagen enthalten. Pardon, aber die Erdbeere ist nun mal ziemlich sexy.
Eigentlich ist die Erdbeere eine Rose, nur nicht so stachelig. Das aus der Art geschlagene Familienmitglied der Rosengewächse wird vom Gourmet-Handbuch als "rote Prachtfrucht, Inbegriff des Sommers" verherrlicht. 3,8 Kilo verputzt der Durchschnitts-Deutsche pro Jahr. Das ist sogar gesund! Erdbeeren enthalten mehr Vitamin C als Orangen oder Zitronen. Bestehen zu 90 Prozent aus Wasser und haben nur 5 Prozent Zuckeranteil. Aber Vorsicht bei gefriergetrockneten Früchten, da kann der Zuckeranteil schon mal auf 50 Prozent hochschnellen. Das schafft das Frischobst natürlich auch, wenn wir’s in einem supersüßen Sahneberg versenken. Die Erdbeere ist übrigens eine Mimose – kaum guckt irgendwo Staunässe, Mehltau, Grauschimmel oder gar der gemeine Wurzelpilz um die Ecke, schon hat sie’s erwischt. Da hilft leider oft nur Pflanzenschutzmittel.

Das Erdbeer-Mädchen. Öl auf Leinwand von Ammi Phillips, um 1830. National Gallery ...Foto: Wikimedia
Wissen wir überhaupt, ob bei uns noch echte Erdbeeren auf den Tisch kommen? Außerhalb der sommerlichen Erntezeit sollten wir skeptisch sein. Preston Pouteaux, amerikanischer Naturkundler und Prediger, rät zur Vorsicht: "Erdbeeren waren früher keine synthetisch hergestellten Geschmackstoffe für Wackelpudding und Frühstücks-Flocken. Sie standen mal für Glückseligkeit! Vielleicht sollten wir diesen Zustand wieder entdecken. Vielleicht sollten wir wieder begreifen, dass Erdbeeren nicht nur Füllmasse für den Mixer sind. Vielleicht sollten wir die Schönheit und den einzigartigen Geschmack wiederfinden."
Kommt, ich nehm euch mit,
Denn ich gehe zu den Erdbeerfeldern.
Nichts ist real,
Und nichts, über das man sich aufregen müsste.
Erdbeerfelder für immer.
Alles klar? Es gibt nicht wenige, die der Frage nachgespürt sind, was John Lennon wohl zu sich genommen hat, als er diesen seltsamen Text von "Strawberry Fields Forever" geschrieben hat. Die harmloseste Version: War das Obst etwa schon zu Alkohol vergoren? Lennon schrieb das Lied im Herbst 1966, im spanischen Almeria. Fakt ist: in Strawberryfields gab’s gar keine Erdbeeren; so hieß vielmehr ein Waisenhaus in Liverpool. Der spätere Beatle John wuchs in der Nähe auf. Sein ultra-erfolgreicher schräger Song wurde von Kritikern mal als surreal, mal als psychedelisch bezeichnet; was man so schreibt, wenn der Text selbst Schlaumeiern ein Rätsel bleibt.
Was ist das Geheimnis der Erdbeeren? Auf der Suche nach Antworten kann einem schwindlig werden. Schon die Steinzeit-Feinschmecker konnten sich an den damals brombeerkleinen Erdbeeren kaum satt essen. Im Mittelalter stand die Erdbeere wohl knapp vor der Heiligsprechung, wegen ihrer symbolischen Kraft. Das dreiblättrige Grünzeug: Symbol der Heiligen Dreifaltigkeit. Die tropfenförmige rote Frucht: Christi Blut. Die fünf Blätter der weißen Blüte: Christi Wunden. Auch für die Cherokee-Indianer war die Erdbeere eine heilige Frucht. Der Schöpfer habe ihre verlockende Wirkung genutzt, um den ersten Mann und die erste Frau zusammenzubringen. Der Irokesen-Stamm der Oneida setzte Erdbeer-Wasser als Heilmittel ein. Der Juni wird von vielen Stämmen Nordamerikas als Monat des Erdbeer-Mondes gefeiert.
Als sich im 16. Jahrhundert Franzosen und Engländer in Nordamerika breitmachten, taten sie so, als hätten sie die Erdbeeren erfunden. 1534 ernannte der Franzose Jacques Cartier sich zum Entdecker der Virginia-Erdbeeren. 60 Jahre später, 1601, konnte man sie erstmals in einem Garten in Paris bestaunen. Die Engländer waren etwas später dran. Roger Williams, der Gründer der Kolonie Rhode Island, beschreibt 1643 großmütig, wie die "Indios" Brot mit Erdbeeren backen – "aber wir haben das weiterentwickelt, wir machen Erdbeer-Wein!" Thomas Jefferson, von 1801 bis 1809 der dritte Präsident Amerikas, hat beobachtet, wie seine Sklaven beim Erdbeerschmaus in Verzückung gerieten und hat auch mal probiert. Lecker, fand Jefferson, aber diese Virginia-Erdbeeren seien derart mickrig, dass 100 von ihnen gerade mal "einen halben Pint" füllen würden (etwas mehr als einen viertel Liter). Als die Spanier Mitte des 16. Jahrhunderts begannen, im Süden Chiles den Landstrich Wallmapu zu "kolonisieren", ahnten sie nicht, mit wem sie sich anlegten. Das Volk der Mapuche-Indianer wehrte sich erbittert und hörte nicht auf damit, bis die Spanier gezwungen waren, den Indigenen knapp hundert Jahre später Souveränität zuzubilligen. Und was hatten die Südeuropäer davon? Immerhin: sie machten Bekanntschaft mit der chilenischen Erdbeere, einer vergleichsweise drallen Lady. Aber ach, ihr fehlte die Süße!
1712 stiefelte Monsieur Amédée-Francois Frézier an Bord des Handelsschiffs Saint Joseph. Der Militäringenieur der Franzosen reiste in geheimer Mission: Er sollte militärische Anlagen in Peru und Chile auskundschaften. Wichtiger aber war dem Spion, was er in der Natur entdeckte: überall an den Stränden des Pazifik wucherten Erdbeeren. Der clevere Mann buddelte welche aus, brachte sie heim und schenkte sie Ludwig XIV, seinem König. Drei behielt er selbst und pflanzte sie in seinen Garten in Brest. Dort nahm das Schicksal seinen Lauf – als nämlich ein Bretone die chilenischen und amerikanischen Früchte miteinander kreuzte. Plötzlich wurde sie geboren, die Fragaria Ananassa, Mutter und Vater unserer "deutschen" Gartenerdbeere.
Haben Sie jemals Klaus Kinski zugehört, wenn er die schlüpfrigen Verse von Paul Zech vorgetragen hat? Sie wissen schon, "Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund." Nach dem Sudel-Gedicht hat Kinski auch seine hemmungslosen "Erinnerungen" benannt; scheint ihm also wichtig gewesen zu sein, als sexbesessener Widerling betrachtet zu werden. Oder, wie es der Kulturjournalist Arno Frank schrieb, als "monströser Psychopath", dessen Vortragskunst ein "speichelfliegendes Brüllen" gewesen sei. "Ich schrie mir schon die Lungen wund nach deinem weißen Leib, du Weib." Das ist die harmloseste Textstelle in diesem Erdbeer-Poem, das in den verruchten 60ern viele auswendig hersagen konnten. Würde ein solches Werk heute überhaupt noch die Kontrollstellen von Sitte und Anstand überstehen? Schwer vorstellbar. In der freizügigen Antike freilich war die Erdbeere besonders sexy, zum Beispiel als Begleit-Frucht der Venus. Die Römerin Venus, Göttin der Liebe, Schönheit und Fruchtbarkeit, lockte alleweil mit den knallroten Früchten. Wen wundert es da, dass die antiken Menschen Erdbeeren gern als Aphrodisiakum eingesetzt haben. Vor allem natürlich die schon damals erotisch versierten Franzosen, die frisch Verliebten eine Erdbeersuppe auftischten. Damit’s auch klappte mit der sexuellen Anziehung.
Nacht über Deutschlands Erdbeerfeldern. Eigentlich soll Ruhe herrschen. Hin und wieder ein paar Nager, die ihre Zähne in Früchte schlagen, die eigentlich für uns gedacht sind. Aber sonst? Tut sich leider auch zu viel. Kleintransporter bremsen an den Feldrändern, Türen schlagen, Eimer klappern, Stirnlampen beleuchten die Nachtarbeit: Die Erdbeer-Banden fallen ein. Das sind die Profis unter den Mund-Räubern. Tagsüber hingegen parken immer häufiger Stadtbewohner ihre 5.000 Euro teuren Carbon-Fahrräder am Früchte-Paradies und schlendern mampfend durch die Felder. Irgendwie muss die Kohle für die Bikes ja wieder reinkommen. Unrechtsbewusstsein gibt’s nicht – die Natur gehört doch allen, oder? Und war nicht irgendwo zu lesen, dass Erdbeeren jede Nacht vom Himmel regnen? Mögen auch zornige Bauern, denen die Früchte ihrer Arbeit vor ihren Augen weggefuttert werden, mit der Polizei drohen – was soll schon passieren? Paragraph 248a des Strafgesetzbuches bewertet den Mundraub als "Diebstahl geringwertiger Sachen".
Und dann sind da noch die Feld-Jäger. Der Hessische Landesverband für Erwerbsobstbau beklagt, dass es zunehmend als "nahezu kostenloses Familien-Event" betrachtet werde, mit dem gesamten Clan in die Erdbeeren zu gehen. Kinder, Enkel und die dazu gehörenden Oldies schwärmen aus, stopfen sich voll mit frischem Obst, bis der Magen quiekt – und wollen dann an der Kasse lediglich ein halbes Pfund bezahlen, "mehr war nicht da". Solchen dreisten Freizeit-Plünderern sind wir auch schon begegnet, zum Beispiel auf den hiesigen Pflückfeldern des "Bauern Würfl". Immer mehr Landwirte wehren sich mit Mindestpflückmengen. Oder kassieren Eintritt. Oder erhöhen die Preise. Vor kurzem erst entsetzte sich das deutsche Alarm-Magazin "Spiegel", das Obst sei seit 2014 um 80 Prozent teurer geworden: "Wird die deutsche Erdbeere unbezahlbar?" Niemals! Was sollten wir stattdessen naschen – Stachelbeeren? Der englische Herrenschneider Izaak Walton, im Nebenjob Schriftsteller, befand schon vor rund 400 Jahren: "Zweifellos hätte Gott eine bessere Beere schaffen können, aber ebenso zweifellos hat er es nicht getan." So ist es. Strawberry Fields Forever!
Zur Erholung empfehlen wir zwei erdbeerige Songs auf Youtube. Die Beatles mit Strawberry Fields Forever: https://www.youtube.com/watch?v=HtUH9z_Oey8 . Und Strawberry Swing von Coldplay: https://www.youtube.com/watch?v=h3pJZSTQqIg (Rainer M. Gefeller) +++
Echt Jetzt! - weitere Artikel


































































