Das Leiden des Bastian Schweinsteiger. - Foto: picture alliance / dpa | Guido Bergmann

REGION Echt jetzt! (60)

Das Leben ist kein Heimspiel - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

06.06.25 - Vom Fußball lernen heißt siegen lernen. Oder mit Anstand verlieren. Unentschieden jedenfalls ist nur was für Weicheier, Unentschlossene und Mutlose. Wenn wir’s politisch sagen wollen: Für die Scholzisten. Wer zu lange rumscholzt, hat im Fußball sowieso nichts verloren – mit Beinahe-Siegen und Fast-Niederlagen kommt man nirgends hin. Vorgestern sind unsere Sportkameraden über den Platz geschlurft, als hätten sie vergessen, ihre Schlafsäcke abzustreifen.

Verehrte Kicker: das haben wir uns echt anders vorgestellt. So rettet ihr nicht mal eure Tantiemen – von der ganz großen Aufgabe, unserer tristen Wirklichkeit wieder neues Leben einzublasen, ganz zu schweigen. Ihr sollt, wie der argentinische Philosoph Pablo Alabarces fordert, die "unerträgliche Sinnlosigkeit" überspielen, die uns die Politik zu häufig zumutet. Der Fußball ist die Kraftmaschine unserer Gesellschaft. Philosophen, Dichter, unsere Wirtschaft und sogar unsere Regierenden und die Bundesbahn können daran auftanken. Wenn nur genug Tore geschossen werden.

Wo die Fußball-Begeisterung ihr Zuhause hat: ein Fan-Tempel in Künzell. ...Fotos: Michael Otto

Kohl, Klinsmann, Kohler bei der WM 1986. Foto: picture-alliance / dpa | Oliver Ber

Fußball ist einfach und klar. Ein Foul ist ein Foul und ein Tor ist ein Tor. Kein Rumgerede, keine verborgenen Tricks; der Kamerabeweis ist immer und rasch zur Stelle. Nicht wie in Berlin, wo der Söder dem Merz demnächst mit tödlicher Gewissheit in die Hacken tritt und der Klingbeil lächelnd den Spahn würgt. Und hinterher zeigen sie sich glückstrahlend in der Tagesschau und behaupten, sie seien sich in allen Punkten einig und überhaupt: allerbeste Freunde. Fußball ist anders: ehrlich. Um es mit dem mathematisch begabten Trainer Aleksandar Ristic zu sagen: "Wenn man ein 0:2 kassiert, dann ist ein 1:1 nicht mehr möglich." Alles andere ist nur Gerede.

Dumm kickt gut. In dieser Einschätzung waren sich viele einig. Die Minigolfspieler. Die Schach-Enthusiasten. Die Halma-Fans. Die Prosecco-Schlürfer in ihren Paul-Smith-Anzügen. Der Welt-Erklärer Schriftsteller Martin Walser lieferte denen, die sich gern im Abseits aufhielten, ein jederzeit einsetzbares Zitat: "Sinnloser als Fußball ist nur noch eines: Nachdenken über Fußball." Stimmt natürlich: viele frühere Akteure haben eine gewisse intellektuelle Unbeholfenheit unter Beweis gestellt, tausende von dämlichen Sprüchen können das belegen. Zum Beispiel der hier: "Der Klinsmann und ich, wir sind ein gutes Trio." Vielleicht haben auch die einschläfernden Fußball-Kommentatoren des vergangenen Jahrtausends dafür gesorgt, dass sowohl bei den Kickern als auch ihren Fans ein Großteil der Hirnzellen in Streik traten. Der Germanist Rainer Moritz, der selbst lange als Schiedsrichter wirkte, hatte ein herzerwärmendes Urteil über die großen Drei im TV: Heribert Faßbender, "der unantastbare Schnarchsackonkel". Dieter Kürten, "die silbergraue Ahnungslosigkeit". Gerd ‚Gaudimax‘ Rubenbauer, "der bayrische Sonderweg".

Das Leiden des Bastian Schweinsteiger. Foto: picture alliance / dpa | Marcelo Sayao

Inzwischen haben die meisten Kicker den Verdacht, sie seien geistig minderbemittelt, längst widerlegt. Dafür sorgt auch ein Heer von Superhirnen, das sich in die Fan-Gemeinde eingereiht hat. Der Literatur-Nobelpreisträger Albert Camus, ein Leuchtturm in Europas Denk-Society, war von immenser Fußball-Leidenschaft beseelt und hat uns offenbart: "Alles, was ich über Moral und Verpflichtung weiß, verdanke ich dem Fußball." Der Journalist Dirk Schümer zog in seinem Buch "Gott ist rund" den Kopf-Arbeitern, die sich eher schmallippig an der Außenlinie festklammerten, wie folgt eines drüber: "Während der deutsche Fußball zwischen 1954 und 1990 Weltniveau hatte, lässt sich das von der Literatur der Nachkriegszeit gewiss nicht behaupten." Der Literaturwissenschaftler Jürgen Schröder formierte eine imaginäre Elf, die man sich schlauer gar nicht vorstellen könnte – mit Camus im Tor, Sartre und Martin Heidegger in der Verteidigung sowie Walter Jens und Peter Handke im Mittelfeld. Im Sturm sollte Franz Kafka aufs Tor ballern. Außerdem gibt es in unserer Republik unzählige namenlose Fußball-Professoren, die den Diskurs über unseren Volks-Sport ebenfalls jederzeit auf höchstem Niveau vorantreiben. Einer von ihnen begegnet mir öfter mal in einer Fuldaer Gaststube; zu feierlichen Anlässen streift er sich ein Trikot von Borussia Dortmund über. Gelegentlich lässt er sein umfassendes Wissen aufblitzen und vergleicht die Fähigkeiten von Musiala mit denen eines Rasentreters aus der dritten Liga im Vogelsberg.

22. Juni 1974, 19:30 Uhr. Im Schwarzen Walfisch in Marburg stand der Qualm wie nach einem Pyro-Angriff feindlicher Hooligans. Im "Walfisch" sammelten sich durstige linke Vögel (Stalinisten, Leninisten, Spontis) und ein paar unpolitische Kettenraucher. Der Fernseher übertönte das übliche Gebrüll; soeben wurde das Spiel DDR gegen die Bundesrepublik angepfiffen. Die Stimmung war ein wenig beklommen: Zu wem hält ein westdeutscher Kommunist, wenn’s gegen den SED-Staat geht? In der 77. Minute schoss Jürgen Sparwasser das Siegtor für die Ossis. Da sahen die Wessis ganz schön blöd aus, auch in der Kneipe. Viele haben gejubelt, der Rest blickte betreten ins Glas oder schlich gleich nach Hause. Aber hatte der französische Parade-Intellektuelle Jean-Paul Sartre nicht schon 1960 kenntnisreich gejuxt: "Bei einem Fußballspiel kompliziert sich alles durch die Anwesenheit der gegnerischen Mannschaft." Das Verhältnis der linken Denk-Arbeiter zum Fußball war wohl immer schon ein wenig verklemmt. Ihre Helden waren Paul Breitner und Günter Netzer. Breitner, weil er schon mal eine Mao-Bibel in die Kameras hielt und einen Haarschnitt trug, den sich sonst nur schlecht geduschte Anarchos gönnten. Und dann dieser Netzer: lange Haare, revolutionäre Spielkunst – aber den linken Bewunderern hielt er entgegen, er sei unpolitisch. Als der Leichtfuß dann noch mit seinem ersten Ferrari vorfuhr, wurden die selbsternannten Vorkämpfer der "Arbeiterbewegung" doch ein wenig nachdenklich.

Fußball wird erst durch seine Fans richtig stark; da hat die Politik noch Aufholbedarf. Oder haben Sie jemanden "Deutsch-land" rufen hören, als die Herren Merz und Klingbeil ihr mehrere hundert Milliarden teures Schuldenpaket zelebrierten? Der deutschen Gesellschaft fehlt der Mut zu großen Gefühlen. Dafür haben wir halt den Fußball, der wie eine Raketenrampe wirkt. Identitätsstiftend, emotionsstark, kämpferisch und mitreißend in seiner schwarz-rot-goldenen Feierlaune. Sportsfreunde sind erfindungsreicher als Polit-Aktivisten. Haben wir eine Ahnung, wie viele unserer Nachbarn ihre Kellerbars in Traumwelten der Fan-Kultur verwandelt haben? Der Künzeller Michael Otto, dessen Fotos oft diese Kolumne schmücken, erlaubt uns einen Blick in seinen Fußball-Tempel. Schauen Sie mal, da steigt doch gleich die Stimmung. Na ja, noch lähmt die Schmach vom Mittwoch unsere Begeisterungsfähigkeit. Aber das wird schon wieder.

Foto: x.com/Podolski10

Wie klingt eigentlich der Fußball? Die Frage beantwortet die berüchtigte Künstliche Intelligenz (KI) wie folgt: Der Ball tönt Plitsch oder Platsch, wenn man dagegentritt; voll aufgepumpt ein wenig härter. Die Spieler stöhnen, atmen, klopfen mit ihren Kick-Tretern auf den Rasen, und manchmal beschwert sich einer lautstark. Die Zuschauer machen richtig Krach; vor allem, wenn das Tor getroffen wird. Die Schiedsrichter pfeifen. Soweit die KI. Am lautesten aber ist und bleibt die Vuvuzela, die in Südafrika erfundene Krawall-Tröte, die zwar zu den Blechblasinstrumenten gezählt wird, jedoch meistens aus Plastik gefertigt wird. Die leider etwas aus der Mode gekommene Vuvuzela ist wie geschaffen für die musikalische Untermalung des Fußballs: unüberhörbar, beinahe ohrenzerfetzend. Während der Fußball-WM 2010 in Südafrika wurde das grelle Instrument erstmals massenhaft eingesetzt; danach machte sich die Vuvu überall breit. Rasch wurden Schreie nach Verboten laut; der damalige FIFA-Boss Sepp Blatter freilich wiegelte ab: "Das ist Afrika, wir müssen das so annehmen". In diversen deutschen Stadien ist das Krach-Gerät (ebenso wie auf südafrikanischen Inlandsflügen) verboten. Nicht aber im Hamburger Volksparkstadion. Manche Spezialisten haben nämlich darauf hingewiesen, Vuvuzela klinge so ähnlich wie Uwe Seeler...

2018 machte die "Welt" eine aufschlussreiche Beobachtung: "In Deutschland ist der Fußball auf mysteriöse Weise mit der Volksseele gekoppelt." Das ist übrigens in Brasilien, Italien und Argentinien auch nicht anders. Wenn allerdings die deutschen National-Kicker den Ball mit Eleganz, Enthusiasmus und Treffsicherheit herumtreten, werden sie schnell als Speerspitze der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet. Der in Wiesbaden geborene Soziologe Norbert Seitz: "Immer dann, wenn die Deutschen politisch ganz bei sich selbst waren, und einen konservativen Volkskanzler gewählt hatten, der sie voll und ganz repräsentierte, wurde Deutschland Weltmeister." Da hat er wohl Recht. 1954 Konrad Adenauer, 1974 Helmut Schmidt, 1990 Helmut Kohl, 2014 Angela Merkel. Wird mal wieder Zeit, oder?

Foto: Kretschmer/Facebook

Friedrich Merz wirkt seit einigen Wochen wie die gut gelaunte Ausgabe seines übellaunigen Zwillingsbruders. Ob er manchmal beim Duschen den über 40 Jahre alten Hit von Geier Sturzflug vor sich hinsummt? Natürlich nur den Refrain: "Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt." Jedenfalls wird Merz der nächste Weltmeister-Kanzler. Nach der Portugal-Pleite mag diese Einschätzung etwas hochmütig klingen, aber wir nehmen gern Wetten entgegen. Die Nagelsmänner werden uns alle aus den Stühlen reißen, da brauchen wir nur geduldig abzuwarten. Die Nations League war doch nur ein albernes Vorspiel, der wichtige Anstoß erfolgt am 11. Juni 2026 im Aztekenstadion, Mexiko-City. Von da an sollten wir uns knapp sechs Wochen lang nichts vornehmen. Danach baden wir Schwarz-Rot-Gold und umarmen vor lauter Rührung unsere Mittelständler, Brückenbauer, Lokführer und Energieversorger und alle übrigen, die nicht schnell genug weglaufen können. Vielleicht gibt’s La Ola vorm Kanzleramt?

Bemerkungen von Rainer M. Gefeller Foto: O|N/Montage

Sogar Martin Walser hat sich irgendwann infizieren lassen. Im Sommer 2010 schrieb er einen offenen Brief an Bastian Schweinsteiger und lobte ihn, weil der nach dem vergeigten WM-Halbfinale gegen Spanien so dekorativ niedergekniet war. Sieger, schreibt Walser, schauten vergleichsweise "dreist aus der Wäsche", wie zum Beispiel Boris Becker. "Wenn er gewonnen hatte, reckte er die geballte Faust in einen leeren Himmel und hatte ein Gesicht wie unsere Vorfahren, als sie noch auf den Bäumen lebten. Aber wenn er verloren hatte, sah er aus wie ein Kind, das nichts dafürkann." Verlierer Schweinsteiger dagegen, hach: "der gloriose Fußballer kniet allein, die Stirn im Gras, dieses Bild hat es verdient, gespeichert zu werden, überall." Offen gestanden: den Jubel der Sieger sehen wir noch lieber. Unserer Sieger, wohlgemerkt.

"Das Leben ist kein Heimspiel", schreibt der Philosoph Klaus Hansen und stellt damit klar, dass die Gegner immer im Vorteil sind. Das gilt vor allem für die Politik. Merz, Klingbeil & Co täten vielleicht gut daran, wenn sie einen Lehrsatz von Giovanni ("Ich habe fertig") Trappatoni in ihren Job übertragen würden: "Fußball ist Ding, Dang, Dong. Es gibt nicht nur Ding!" (Rainer M. Gefeller) +++

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