06.08.24 - Schaffen wir es gleich aus dem Weg: Ein Festspiel-Porträt über Lilo Wanders zu schreiben bedeutet auch, dass man bereits mit unzähligen Anregungen, Fragen von außen und Meinungen in das Gespräch geht. Da sind viele Themen, zu deren Diskussion sie nun einmal anregt. Doch um Rollenverständnisse, Authentizität und Sexualität soll es in den nachfolgenden Zeilen vor allem in Bezug auf die Rolle der Spelunken-Jenny in Bertolt Brechts "Dreigroschenoper" gehen. Denn in dieser steht Wanders in den letzten fünf Vorstellungen des Stückes im August auf der Bühne der Bad Hersfelder Festspiele.
Ganz offen, ganz transparent, besprechen wir dies an einem Nachmittag im Juli am Telefon. Legen fest, wohin uns die nächsten Minuten führen können, worüber wir hier eigentlich reden. Um die Zeit in Bad Hersfeld wird es gehen, in der Lilo Wanders - nach ihren vielen Jahrzehnten auf Bühnen und vor Kameras - erstmals in einer derartigen Form auftritt. Es wird darum gehen, wie ihre Spelunken-Jenny aussieht, eine Rolle, die sie sich mit Schauspielkollegin Anna Loos teilt. Und es geht um Gefühle, Gedanken und Herausforderungen, mit denen die 68-Jährige sich derzeit beschäftigt.
"Eine Person, die nicht existiert"
"Lilo Wanders ist eine Person, die keine Ahnung hat, dass sie nicht existiert", sagt die Schauspielerin halb scherzhaft und doch ernst im Interview. So geht es wahrscheinlich den meisten Menschen irgendwann einmal, sind wir doch alle ständigen Veränderungen, Entwicklungen unterworfen - und vor allem nie fertig. Und so ist auch Wanders nach ihren vielen Jahren in verschiedensten Rollen nicht fertig. Auch sie verändert sich immer weiter. Mit all den Geschichten, die sie nach ihren Shows von Zuschauern erzählt bekommt, mit all den Emotionen, die sie in ihnen auslöst. "Ich weiß genau, was ich da geschenkt bekomme", sagt sie.
Vertrauen ist es und Menschlichkeit, die ihr entgegengebracht werden - zwei Dinge, die sie auch spürt, wenn sie ihren Kollegen im Festspiel-Ensemble begegnet. "Die sind alle hinreißend", sagt sie schwärmend. "Da ist kein Stinkstiefel dabei. Natürlich alles ausgeprägte Charaktere, aber mir alle sehr zugewandt und ganz entzückend." So bedauere sie es auch, dass sie aktuell noch nicht so integriert sein kann. "Aber das lässt mich keiner spüren. Alle sind hilfreich und ganz, ganz nett."
Fotos (3): Carina Jirsch
Lilo Wanders im O|N-Interview auf dem Roten Teppich Ende Juni
Gemeinsam mit Intendant Joern Hinkel
Ein selbsternanntes "Ensembletier"
Aufgrund anderer Projekte hat das selbsternannte "Ensembletier" bis Anfang Juli nur wenige Male auf der Probenbühne stehen können, was sich natürlich in den letzten Wochen vor ihren Auftritten ändern sollte. Einige Vorstellungen hat sie zudem gesehen, mit Anna Loos als Jenny. Besonders spannend, kennen die beiden Darstellerinnen sich doch bereits seit vielen Jahren. Loos hatte damals bei Wanders auf der Bühne des Schmidt-Theaters in St. Pauli ihren ersten Auftritt. Und doch haben sich die beiden über Jenny bisher nicht ausgetauscht. "Das ist ja nicht so gedacht, dass ich sie kopiere", sagt Wanders. Jede der beiden Darstellerinnen baut ihre eigene Spelunken-Jenny - und das sei auch gut so.
Lilo Wanders liebt psychologisches Theater und auch wenn Brechts Figuren auf den ersten Blick sehr klar sind, lösen sie in der Schauspielerin, das zeigt sich im Gespräch, sehr viel mehr aus. Bringen sie zum Nachdenken. Sie reizt an Jenny vor allem deren Ambivalenz, spezieller die Ambivalenz von Mackie und Jenny. So glaubt sie nicht, dass Mackie von Jennys Verrat wirklich überrascht ist. Da sei viel mehr: "Die sind nackt voreinander gewesen, also nicht im körperlichen Sinne, sondern die wissen, was menschliche Beziehung sein kann." "Sie erkannten einander", zitiert sie die Bibel im Gespräch. "Und das ist natürlich ein hohes Ziel, eine solche Beziehung zueinander zu haben, finde ich. Also sich nicht voreinander zu verstecken, sondern darauf zu vertrauen, dass es auf Gegenseitigkeit beruht und man sich darauf verlassen kann." Vielleicht eine der ehrlichsten Beziehungen, die man sich vorstellen kann und das trotz des Verrates.
Lampenfieber bis zum Auftritt
Diese Herausforderungen der Rollenarbeit, der Textarbeit sind es, mit denen Wanders sich derzeit wieder ganz neu und intensiv beschäftigt. Aber auch ein alter Bekannter begleitet sie bis heute. So ist sie, wie sie erzählt auch ein "fürchterliches Lampenfieber-Tier." "Ich weiß ja auch, was in der Probenzeit passiert. Der Selbstzweifel. Man kann es nicht. Und dann aber ist es soweit und dann muss es sein und dann, glücklicherweise, geht mein Lampenfieber weg in dem Moment in dem ich auf die Bühne trete", erzählt sie weiter. Auch in Bad Hersfeld sei das so und damit verbunden auch ein Moment, auf den sie sich besonders freue. "Dieses Glücksgefühl hinterher", erklärt sie. Wenn man selbst sehe, dass man es eben doch kann.
Auch körperlich fordert die Darstellung von Jenny einiges Können von ihr. Gerade einmal als Mitte zwanzig ist die Figur von Brecht angelegt. Jung, agil, frech. Auf der Ruinenbühne gibt es eine Szene, in der Jenny ein Gerüst leichtfüßig bis nach oben klettert. Für eine Mitte-Zwanzigjährige ist das in der Regel körperlich kein großes Problem. Doch sie habe Sorge gehabt, ob sie dies hinbekomme, zumal sie an extremer Höhenangst leide. "Ich habe mich gefragt: Schaffe ich in meinem hohen Alter diese Kletterpartie?", sagt sie und gibt die Antwort auch prompt "Ich schaffe sie."
"Ich will das 150-prozentig machen"
Das liegt sicherlich auch an ihrem großen Ehrgeiz, der sie seit ihrer Kindheit begleitet. "Ich will das 150-prozentig machen", sagt Wanders ganz bestimmt. Einen Bekanntheitsbonus lehnt sie ab. Verdient sich ihre Lorbeeren selbst. So, wie sie es von Beginn ihrer Karriere an getan hat und so, wie ihr Publikum - das hat sich bereits bei den Fans am Roten Teppich Ende Juni ganz klar gezeigt - sie bis heute liebt und schätzt. (Sabrina Ilona Teufel-Hesse) +++
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