

Der kleine Dicke mit den gelben Zähnen - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
21.03.25 - Aaargh! Was ist das denn? Was ist das für ein pummeliger Schlingel, der uns derart gut gelaunt angrinst? Wetten, dass der Anblick seiner vier riesigen gelben Zähne unsere zartfühlenden Zahnärzte bis in ihre schlimmsten Alpträume verfolgt? Castor heißt der kleine Dicke mit den knackigen Beißern und diesem Schwanzlappen, der aussieht wie eine Gummimatte. Er killt Bäume. Er sorgt für Überschwemmungen. Er ist ein Stinker. Er zeigt sich nur selten in der Öffentlichkeit. Und dennoch sollten wir nett zu ihm sein. Vor allem, weil unsere Vorfahren dem größten Nager in Europa echt übel mitgespielt haben. Ach so, wir kennen ihn natürlich unter seinem nicht-lateinischen Namen. Begrüßen wir: den Biber.
Die Sonne knallt aufs Osthessische hernieder, als hätte sie was gut zu machen. Zeit für eine Heimat-Visite. Guck mal an, der Aueweiher. Halb Fulda scheint unterwegs zu sein und will die einzige achtbare Seenlandschaft der Stadt prüfen. Schön ist es hier geworden; die Bauzäune sind sogar weg. Aber was sehen wir denn da drüben, ein paar Schritte weg, links und rechts unseres träge dahin wogenden Flusses? Die Uferbäume zerfetzt wie nach einem Kettensägen-Massaker. Überall Holzspäne, traurig an den Boden gekauerte Stümpfe. Bäume gefällt und in den Fluss gekippt. Selbst uralten Kolossen ging es an die Stämme, die kleineren waren sowieso chancenlos. Wo sind bloß die Naturschützer, die sich an die Weiden, Hainbuchen oder Erlen ketten, um die Frevler abzuhalten? Und wer war das überhaupt? Ach so, der ist uns vor ein paar Sätzen schon begegnet – der Grinser mit den gelben Zähnen.
Wieso macht der sowas? Zeit für einen Steckbrief. Wird einen Meter lang, wiegt bis zu 30 Kilo, wird bis zu 20 Jahre alt. Gedrungener Körper, schuppiger Schwanz. Das Fell: ultradicht und warm. Lange "Grannenhaare" über einer dichten Unterwolle. 230 Haare pro Quadratmillimeter. Wir Menschen haben maximal 6 – da müssen nur ein paar ausfallen, schon blüht uns die Glatze. Pflanzenfresser; besonders gern futtert er Knospen und junge Rinde von dünnen Zweigen, meistens von Weiden. Kann ordentlich zubeißen mit seinen vier Nage- und 16 Backenzähnen. Die Nagezähne sind Wunderwerke: ein Leben lang nachwachsend, selbstschärfend; die Farbe ist ein rostiges Orange. Weil der Zahnschmelz mit Eisen verhärtet ist. Damit können Biber einen 50 Zentimeter dicken Stamm an einem Tag durchbeißen. Der Biber fällt bis zu 50 Bäume im Jahr. Genagt wird bequem im Sitzen, immer schön quer zum Stamm. Bevor der Baum kippt, sieht er an der Bissstelle aus wie eine altmodische Sanduhr mit bleistiftdünner Taille.
Meister Biber unterhält gern mehrere Wohnsitze, meistens am Flussufer – die Eingänge sind unter Wasser. Äste und Baumschnipsel nutzt er für den Bau von Dämmen und für eine bis zu fünf Meter breite Burg, in der er sich verschanzen kann. Lebt monogam. Nachtschwärmer. Hält sein Fell durch ständiges Cremen in Schuss, die Bodylotion produziert er selbst: in zwei hühnereigroßen, runzligen "Castorbeuteln" zwischen After und Geschlechtsorgan. Damit cremt er sich ein, damit markiert er auch sein Revier. Das Sekret riecht gar nicht gut. Menschen, die in Biber-Nähe schon mal durch die Nase eingeatmet haben, beschreiben: "stark stechend", "bestialisch stinkend", "lederartig animalisch", "beim Männchen wie Motoröl, beim Weibchen wie alter Käse". "Bibergeil" heißt der würzige Stoff.
In Deutschland leben über 40.000 Biber. In Hessen fühlen sich die meisten im Spessart, in der Wetterau und im Main-Kinzig-Kreis wohl – aber ihre Invasion der alten Heimat ist in vollem Gang. Die traurige Wahrheit: in den meisten Regionen Europas war der Biber, seit 15 Millionen Jahren ein angesehener Mitbewohner, bereits im 17. Jahrhundert ausgerottet. Im Odenwald wurde der letzte hessische Biber 1596 gesichtet. Und warum?
Erstens: Die Menschen brauchten warme Mäntel und Mützen. Biberfell war die Wärmflasche des Mittelalters. Deshalb ging’s den Tieren an den Kragen.
Zweitens: Bibergeil war das Aspirin des Mittelalters. Was dieser Zauberstoff nicht alles heilen konnte: Fieber, Kopf-, Zahn-, Ohren- und Herzschmerzen, Verstopfung, Rheuma, Gicht, Ischias, Schwerhörigkeit, Tuberkulose. 1685 erschien in Augsburg die "Castorologia", in der 200 Bibergeil-Rezepte gegen nahezu alle menschlichen Leiden abgehandelt wurden. Die Heilwirkung beruhte auf Salizin, das in der von Bibern gern verputzten Weidenrinde enthalten ist. Acetylsalyzilsäure ist auch der Stoff, der dem Allheimittel unserer Kopfschmerz-Gesellschaft seine Wirkung verleiht: im Aspirin.
Drittens: Der Biber schmeckte den Mönchen und der Mittelalter-Schickeria – und wurde von der Kirche sogar zur Fastenzeit erlaubt. Im Jahr 590 hatte Papst Gregor I. ("der Große") allen Christen verboten, in der Fastenzeit Fleisch zu essen. 40 Tage lang! Aber was ist Fleisch? Zügig wurden Biber zu "fischähnlichen Wassertieren" erklärt und kamen ganzjährig auf den Tisch der Wohlgeborenen. "Bezüglich seines Schwanzes ist er ganz ein Fisch", befand 1754 der Jesuitenpater Charlevoix und gab damit der hemmungslosen Biber-Verzehrung nachträglich seinen Segen. Es gab Biber-Braten mit Klößen, Biber gedämpft, Biber-Ragout. Was damals als Gipfel der Köstlichkeit galt, befremdet die heutigen Feinschmecker. 1988 wurde den Abgesandten des Restaurantführers Gault&Millau in einer Aachener Edel-Bude "Zuchtbiber mit Zwiebelmarmelade" serviert, mitsamt Zuckerschoten, Rettich, Maiskölbchen und rotem Mangold. Geschmeckt hat’s den Testern nicht, "wie langweiliges Kalbfleisch".
Jetzt ist er also wieder da, der Biber. Der einst Verfolgte ist heute streng geschützt. Seit den 80er Jahren werden die Baum-Beißer wieder in Hessen eingegliedert – erst 18 "Pionierbiber" im Spessart, und dann wurden es hurtig immer mehr. Kinderzeugung scheint ihre zweite Leidenschaft zu sein. Fell, Fleisch und Bibergeil darf ihnen niemand mehr streitig machen. Willkommen ist der Biber trotzdem nicht überall. Wer hat was gegen ihn? Förster, zum Beispiel – sie mögen halt keine illegalen Baumfäller. Bauern mögen auch keine Biber: weil sie sich mit ihren Ernteerträgen die Bäuche vollschlagen. Besonders gern mit Mais und Zuckerrüben. Vor allem aber macht seine größte Passion den Biber zum Problemtier: der Dammbau.
Biber bauen Dämme, wo immer Bäche und Flüsse bergab fließen. Dämme sollen die Eingänge zu ihren Wohnhöhlen schützen. Der Einstieg ins Privatreich soll mindestens 60 Zentimeter tief im Wasser liegen. Durch den Dammbau regulieren Biber die Wasserhöhe. Dämme können allerdings auch zu massiven Überschwemmungen führen, denen viele Baumarten nicht gewachsen sind. Straßen werden unterspült, Deiche werden aufgeweicht, Keller, Felder, Kläranlagen und Freizeitanlagen werden überflutet.
Man kann’s natürlich auch ganz anders betrachten. Für "National Geographic" sind die Nager unsere "Geheimwaffe gegen Klimaschäden". Biber, preist der hessische Naturschutzbund, "verwandeln begradigte und verbaute Flüsse zum Nulltarif in naturnahe Gewässerlandschaften". Landschaftsarchitekten seien sie, wir sollten dankbar sein, dass sie sich wieder biberwohl fühlen bei uns – weil sie all das, was ihre menschlichen Kollegen durch Begradigung, Untertunnelung und Betonierung verbockt haben, wieder ins rechte Lot nagen. Und wenn der Ärger mit den menschlichen Nachbarn zu groß wird? Am Ober-Mooser Teich und dem Nieder-Mooser See zum Beispiel wissen sich die Anwohner nur noch durch den Abriss der gewaltigen Biberburgen zu helfen – weil durch verstopfte Abflüsse Ortschaften und Kläranlagen überschwemmt werden können. An der Fulda vor Kämmerzell ragt ein angefräster Baum am Ufer – daran und an den Nachbarbäumen kann sich selbst der Biber seine stahlharten Zähne ausbeißen: die Stämme wurden mit einer Draht-Manschette umwickelt. Schon gibt der Nager Ruhe.
Schauen wir doch nochmal in der Fuldaer Wasser-Idylle vorbei. Auf der "Fulda-Insel", einem Gelände zwischen dem Fluss und einem Seitenarm, sieht alles ziemlich geleckt aus. Vor 70 Jahren waren Sträucher und Bäumchen hier sicher weniger gezähmt; schließlich wollten die Fuldaer in ihrem Licht- und Luft-Bad ein unverfälschtes Natur-Erlebnis genießen – so textilfrei, wie es schicklich war. Biber gab es hier damals nicht mehr. Heute ist die Liegewiese weg. Auf einer Blechtreppe sitzt ein junger Kerl und beißt in sein Eier-Brötchen. Er hat freien Blick auf die angenagten Bäume am nahen Ufer. Guck an, echte Natur! Der Biber nagt und nagt und nagt und widersetzt sich unseren Erziehungsversuchen. Hier stört er doch auch niemanden. Würden wir nicht auch manchmal ein wenig Unordnung schaffen? Sind wir nicht auch ein bisschen wie er? Natürlich ohne die nikotin-gelben Zähne! (Rainer M. Gefeller) +++
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